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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
gnügen. Sie glaubten es sich schuldig zu sein die Unabhän-
gigkeit ihres Staates um so mehr zur Schau zu tragen, je
weniger daran war; man sprach von Kriegsrecht, von der
treuen Beihülfe der Achaeer in den Kriegen der Römer; man
fragte die römischen Gesandten auf der achaeischen Tag-
satzung, warum Rom sich um Messene bekümmere, da Achaia
ja nicht nach Capua frage, und der hochherzige Patriot, der
also gesprochen, wurde applaudirt und war der Stimmen bei den
Wahlen sicher. Das alles würde sehr recht und sehr erhaben
gewesen sein, wenn es nicht noch viel lächerlicher gewesen
wäre. Ohne Zweifel lagen edle Gefühle hier zu Grunde; es
lag eine tiefe Gerechtigkeit und ein noch tieferer Jammer
darin, dass Rom, so ernstlich es die Freiheit der Hellenen
zu gründen und den Dank der Hellenen zu verdienen bemüht
war, dennoch ihnen nichts gab als die Anarchie und nichts
erntete als den Undank. Aber trotz der guten Absichten der
Führer ist dieser achaeische Patriotismus nicht minder eine
Thorheit und eine wahre historische Fratze. Bei all jenem
Ehrgeiz und all jener nationalen Empfindlichkeit geht durch
die ganze Nation vom ersten bis zum letzten Mann das
gründlichste Gefühl der Ohnmacht. Stets horcht Jeder nach
Rom, der liberale Mann nicht weniger wie der servile: man
dankt dem Himmel, wenn das gefürchtete Decret ausbleibt;
man mault, wenn der Senat zu verstehen giebt, dass man
wohl thun werde freiwillig nachzugeben um es nicht gezwun-
gen zu thun; man thut was man muss wo möglich in einer
für die Römer verletzenden Weise ,um die Formen zu retten';
man berichtet, erläutert, verschiebt, schleicht sich durch und
wenn es nicht anders gehen will, so wird mit einem patrio-
tischem Seufzer nachgegeben. Das Treiben hätte Anspruch
wo nicht auf Billigung doch auf Nachsicht, wenn die Führer
zum Kampf entschlossen gewesen wären und der Knechtschaft
der Nation den Untergang vorgezogen hätten; aber weder
Philopoemen noch Lykortas dachten an einen solchen politi-
schen Selbstmord -- man wollte wo möglich frei sein, aber
denn doch vor allem leben. Zu allem diesem aber sind es
niemals die Römer, die die gefürchtete römische Intervention
in die inneren Angelegenheiten Griechenlands hervorrufen,
sondern stets die Griechen selbst, die wie die Knaben den
Stock, den sie fürchten, selber einer über den andern bringen.
Der von dem gelehrten Pöbel hellenischer und nachhellenischer
Zeit bis zum Ekel wiederholte Vorwurf, dass die Römer be-

DRITTES BUCH. KAPITEL IX.
gnügen. Sie glaubten es sich schuldig zu sein die Unabhän-
gigkeit ihres Staates um so mehr zur Schau zu tragen, je
weniger daran war; man sprach von Kriegsrecht, von der
treuen Beihülfe der Achaeer in den Kriegen der Römer; man
fragte die römischen Gesandten auf der achaeischen Tag-
satzung, warum Rom sich um Messene bekümmere, da Achaia
ja nicht nach Capua frage, und der hochherzige Patriot, der
also gesprochen, wurde applaudirt und war der Stimmen bei den
Wahlen sicher. Das alles würde sehr recht und sehr erhaben
gewesen sein, wenn es nicht noch viel lächerlicher gewesen
wäre. Ohne Zweifel lagen edle Gefühle hier zu Grunde; es
lag eine tiefe Gerechtigkeit und ein noch tieferer Jammer
darin, daſs Rom, so ernstlich es die Freiheit der Hellenen
zu gründen und den Dank der Hellenen zu verdienen bemüht
war, dennoch ihnen nichts gab als die Anarchie und nichts
erntete als den Undank. Aber trotz der guten Absichten der
Führer ist dieser achaeische Patriotismus nicht minder eine
Thorheit und eine wahre historische Fratze. Bei all jenem
Ehrgeiz und all jener nationalen Empfindlichkeit geht durch
die ganze Nation vom ersten bis zum letzten Mann das
gründlichste Gefühl der Ohnmacht. Stets horcht Jeder nach
Rom, der liberale Mann nicht weniger wie der servile: man
dankt dem Himmel, wenn das gefürchtete Decret ausbleibt;
man mault, wenn der Senat zu verstehen giebt, daſs man
wohl thun werde freiwillig nachzugeben um es nicht gezwun-
gen zu thun; man thut was man muſs wo möglich in einer
für die Römer verletzenden Weise ‚um die Formen zu retten‘;
man berichtet, erläutert, verschiebt, schleicht sich durch und
wenn es nicht anders gehen will, so wird mit einem patrio-
tischem Seufzer nachgegeben. Das Treiben hätte Anspruch
wo nicht auf Billigung doch auf Nachsicht, wenn die Führer
zum Kampf entschlossen gewesen wären und der Knechtschaft
der Nation den Untergang vorgezogen hätten; aber weder
Philopoemen noch Lykortas dachten an einen solchen politi-
schen Selbstmord — man wollte wo möglich frei sein, aber
denn doch vor allem leben. Zu allem diesem aber sind es
niemals die Römer, die die gefürchtete römische Intervention
in die inneren Angelegenheiten Griechenlands hervorrufen,
sondern stets die Griechen selbst, die wie die Knaben den
Stock, den sie fürchten, selber einer über den andern bringen.
Der von dem gelehrten Pöbel hellenischer und nachhellenischer
Zeit bis zum Ekel wiederholte Vorwurf, daſs die Römer be-

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[566/0580] DRITTES BUCH. KAPITEL IX. gnügen. Sie glaubten es sich schuldig zu sein die Unabhän- gigkeit ihres Staates um so mehr zur Schau zu tragen, je weniger daran war; man sprach von Kriegsrecht, von der treuen Beihülfe der Achaeer in den Kriegen der Römer; man fragte die römischen Gesandten auf der achaeischen Tag- satzung, warum Rom sich um Messene bekümmere, da Achaia ja nicht nach Capua frage, und der hochherzige Patriot, der also gesprochen, wurde applaudirt und war der Stimmen bei den Wahlen sicher. Das alles würde sehr recht und sehr erhaben gewesen sein, wenn es nicht noch viel lächerlicher gewesen wäre. Ohne Zweifel lagen edle Gefühle hier zu Grunde; es lag eine tiefe Gerechtigkeit und ein noch tieferer Jammer darin, daſs Rom, so ernstlich es die Freiheit der Hellenen zu gründen und den Dank der Hellenen zu verdienen bemüht war, dennoch ihnen nichts gab als die Anarchie und nichts erntete als den Undank. Aber trotz der guten Absichten der Führer ist dieser achaeische Patriotismus nicht minder eine Thorheit und eine wahre historische Fratze. Bei all jenem Ehrgeiz und all jener nationalen Empfindlichkeit geht durch die ganze Nation vom ersten bis zum letzten Mann das gründlichste Gefühl der Ohnmacht. Stets horcht Jeder nach Rom, der liberale Mann nicht weniger wie der servile: man dankt dem Himmel, wenn das gefürchtete Decret ausbleibt; man mault, wenn der Senat zu verstehen giebt, daſs man wohl thun werde freiwillig nachzugeben um es nicht gezwun- gen zu thun; man thut was man muſs wo möglich in einer für die Römer verletzenden Weise ‚um die Formen zu retten‘; man berichtet, erläutert, verschiebt, schleicht sich durch und wenn es nicht anders gehen will, so wird mit einem patrio- tischem Seufzer nachgegeben. Das Treiben hätte Anspruch wo nicht auf Billigung doch auf Nachsicht, wenn die Führer zum Kampf entschlossen gewesen wären und der Knechtschaft der Nation den Untergang vorgezogen hätten; aber weder Philopoemen noch Lykortas dachten an einen solchen politi- schen Selbstmord — man wollte wo möglich frei sein, aber denn doch vor allem leben. Zu allem diesem aber sind es niemals die Römer, die die gefürchtete römische Intervention in die inneren Angelegenheiten Griechenlands hervorrufen, sondern stets die Griechen selbst, die wie die Knaben den Stock, den sie fürchten, selber einer über den andern bringen. Der von dem gelehrten Pöbel hellenischer und nachhellenischer Zeit bis zum Ekel wiederholte Vorwurf, daſs die Römer be-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/580>, abgerufen am 19.05.2024.