Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.DRITTES BUCH. KAPITEL VI. hatten sich die Gefahren herausgestellt, die die demokratischenElemente der römischen Verfassung dem neuen Grossstaate droh- ten. Man hatte nie verkennen können und nie in Rom ver- kannt, dass in den Urwahlen, wie sie dort bestanden, haupt- sächlich der Zufall entschied, allein es liess sich dies ertragen, so lange die moralische Gewalt des Senats über die Menge den Zufall nöthigenfalls zu beherrschen im Stande war und so lange überhaupt auf die Individualität der Bürgerwehrführer und Jahrvorsteher nicht viel ankam. Jetzt begann jene Auto- rität in der allgemeinen Zügellosigkeit und Uebermüthigkeit zu schwinden und eben jetzt kam etwas mehr darauf an, wer Consul ward, als da es gegen die Volsker und Aequer ging. Man hatte in dieser Beziehung nach gemachten bitteren Erfah- rungen allerdings wenn nicht die Sätze, doch die Uebung der Verfassung zum Bessern verändert; es war dies der wesent- liche Grund, dem man die Rettung und den Sieg verdankte. Die Zukunft musste lehren, ob jene Erfahrungen auf die Dauer gefruchtet hatten. -- Welche Lücken Krieg und Hunger in die Reihen der italischen Bevölkerung gerissen hatten, zeigt das Beispiel der römischen Bürgerschaft, deren Zahl während des Krieges fast um den vierten Theil geschwunden war; selbst die Angabe der Gesammtzahl der im hannibalischen Krieg gefallenen Italiker auf 300000 Köpfe scheint durchaus nicht übertrieben. Wie sehr endlich der siebzehnjährige Krieg, der zugleich im Ausland nach allen vier Weltgegenden und im Inland geführt worden war, die Volkswirthschaft im tiefsten Kern erschüttert haben musste, ist im Allgemeinen klar; zur Ausführung im Einzelnen reicht die Ueberlieferung nicht hin. Zwar der Staat gewann durch die Confiscationen und nament- lich das campanische Gebiet blieb seitdem eine unversiegliche Quelle der Staatsfinanzen; allein durch diese Ausdehnung der Domänenwirthschaft ging natürlich der Volkswohlstand um eben so viel zurück als er in anderen Zeiten gewonnen hatte durch die Zerschlagung der Staatsländereien. Eine Menge blühender Ortschaften -- man rechnet vierhundert -- war vernichtet und verderbt, das mühsam gesparte Capital aufge- zehrt, die Bevölkerung durch das Lagerleben demoralisirt, die alte gute Tradition bürgerlicher und bäuerlicher Sitte von der Hauptstadt bis in das letzte Dorf untergraben. Sclaven und verzweifelte Leute thaten sich in Räuberbanden zusammen, von deren Gefährlichkeit es einen Begriff giebt, dass in einem einzigen Jahre (569) allein in Apulien 7000 Menschen ver- DRITTES BUCH. KAPITEL VI. hatten sich die Gefahren herausgestellt, die die demokratischenElemente der römischen Verfassung dem neuen Groſsstaate droh- ten. Man hatte nie verkennen können und nie in Rom ver- kannt, daſs in den Urwahlen, wie sie dort bestanden, haupt- sächlich der Zufall entschied, allein es lieſs sich dies ertragen, so lange die moralische Gewalt des Senats über die Menge den Zufall nöthigenfalls zu beherrschen im Stande war und so lange überhaupt auf die Individualität der Bürgerwehrführer und Jahrvorsteher nicht viel ankam. Jetzt begann jene Auto- rität in der allgemeinen Zügellosigkeit und Uebermüthigkeit zu schwinden und eben jetzt kam etwas mehr darauf an, wer Consul ward, als da es gegen die Volsker und Aequer ging. Man hatte in dieser Beziehung nach gemachten bitteren Erfah- rungen allerdings wenn nicht die Sätze, doch die Uebung der Verfassung zum Bessern verändert; es war dies der wesent- liche Grund, dem man die Rettung und den Sieg verdankte. Die Zukunft muſste lehren, ob jene Erfahrungen auf die Dauer gefruchtet hatten. — Welche Lücken Krieg und Hunger in die Reihen der italischen Bevölkerung gerissen hatten, zeigt das Beispiel der römischen Bürgerschaft, deren Zahl während des Krieges fast um den vierten Theil geschwunden war; selbst die Angabe der Gesammtzahl der im hannibalischen Krieg gefallenen Italiker auf 300000 Köpfe scheint durchaus nicht übertrieben. Wie sehr endlich der siebzehnjährige Krieg, der zugleich im Ausland nach allen vier Weltgegenden und im Inland geführt worden war, die Volkswirthschaft im tiefsten Kern erschüttert haben muſste, ist im Allgemeinen klar; zur Ausführung im Einzelnen reicht die Ueberlieferung nicht hin. Zwar der Staat gewann durch die Confiscationen und nament- lich das campanische Gebiet blieb seitdem eine unversiegliche Quelle der Staatsfinanzen; allein durch diese Ausdehnung der Domänenwirthschaft ging natürlich der Volkswohlstand um eben so viel zurück als er in anderen Zeiten gewonnen hatte durch die Zerschlagung der Staatsländereien. Eine Menge blühender Ortschaften — man rechnet vierhundert — war vernichtet und verderbt, das mühsam gesparte Capital aufge- zehrt, die Bevölkerung durch das Lagerleben demoralisirt, die alte gute Tradition bürgerlicher und bäuerlicher Sitte von der Hauptstadt bis in das letzte Dorf untergraben. Sclaven und verzweifelte Leute thaten sich in Räuberbanden zusammen, von deren Gefährlichkeit es einen Begriff giebt, daſs in einem einzigen Jahre (569) allein in Apulien 7000 Menschen ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0496" n="482"/><fw place="top" type="header">DRITTES BUCH. 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DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
hatten sich die Gefahren herausgestellt, die die demokratischen
Elemente der römischen Verfassung dem neuen Groſsstaate droh-
ten. Man hatte nie verkennen können und nie in Rom ver-
kannt, daſs in den Urwahlen, wie sie dort bestanden, haupt-
sächlich der Zufall entschied, allein es lieſs sich dies ertragen,
so lange die moralische Gewalt des Senats über die Menge
den Zufall nöthigenfalls zu beherrschen im Stande war und
so lange überhaupt auf die Individualität der Bürgerwehrführer
und Jahrvorsteher nicht viel ankam. Jetzt begann jene Auto-
rität in der allgemeinen Zügellosigkeit und Uebermüthigkeit
zu schwinden und eben jetzt kam etwas mehr darauf an, wer
Consul ward, als da es gegen die Volsker und Aequer ging.
Man hatte in dieser Beziehung nach gemachten bitteren Erfah-
rungen allerdings wenn nicht die Sätze, doch die Uebung der
Verfassung zum Bessern verändert; es war dies der wesent-
liche Grund, dem man die Rettung und den Sieg verdankte.
Die Zukunft muſste lehren, ob jene Erfahrungen auf die Dauer
gefruchtet hatten. — Welche Lücken Krieg und Hunger in
die Reihen der italischen Bevölkerung gerissen hatten, zeigt
das Beispiel der römischen Bürgerschaft, deren Zahl während
des Krieges fast um den vierten Theil geschwunden war; selbst
die Angabe der Gesammtzahl der im hannibalischen Krieg
gefallenen Italiker auf 300000 Köpfe scheint durchaus nicht
übertrieben. Wie sehr endlich der siebzehnjährige Krieg, der
zugleich im Ausland nach allen vier Weltgegenden und im
Inland geführt worden war, die Volkswirthschaft im tiefsten
Kern erschüttert haben muſste, ist im Allgemeinen klar; zur
Ausführung im Einzelnen reicht die Ueberlieferung nicht hin.
Zwar der Staat gewann durch die Confiscationen und nament-
lich das campanische Gebiet blieb seitdem eine unversiegliche
Quelle der Staatsfinanzen; allein durch diese Ausdehnung der
Domänenwirthschaft ging natürlich der Volkswohlstand um
eben so viel zurück als er in anderen Zeiten gewonnen hatte
durch die Zerschlagung der Staatsländereien. Eine Menge
blühender Ortschaften — man rechnet vierhundert — war
vernichtet und verderbt, das mühsam gesparte Capital aufge-
zehrt, die Bevölkerung durch das Lagerleben demoralisirt, die
alte gute Tradition bürgerlicher und bäuerlicher Sitte von der
Hauptstadt bis in das letzte Dorf untergraben. Sclaven und
verzweifelte Leute thaten sich in Räuberbanden zusammen,
von deren Gefährlichkeit es einen Begriff giebt, daſs in einem
einzigen Jahre (569) allein in Apulien 7000 Menschen ver-
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