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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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KARTHAGO.
Sache zu machen mit der opponirenden Reformpartei. Deren
Macht war im Steigen in Rom wie in Karthago, aber weit schneller
stieg sie hier. Schon während des zweiten punischen Krieges hat-
ten die Volksversammlungen einen andern Charakter angenom-
men und waren sie es, die im Staate entschieden; man vernimmt
die für eine beginnende Herrschaft der städtischen Menge be-
zeichnende Klage, dass in Karthago die Buben die Revolutionen
machen helfen. Nach Beendigung des hannibalischen Krieges
ward auf Hannibals Vorschlag sogar durchgesetzt, dass kein
Mitglied des Raths der Hundert zwei Jahre nach einander im
Amt sein könne und damit die volle Demokratie eingeführt,
die allerdings nach der Lage der Dinge allein Karthago zu
retten im Stande war. Allein diese Verfassungsänderung trat
erst ein, als es zu spät und durch Schuld der verrotte-
ten Oligarchie der Staat schon verloren war. -- Karthago
wie Rom beherrschten ihre Stammgenossen und zahlreiche
stammfremde Gemeinden. Aber Rom nahm allmählich ei-
nen District nach dem andern in sein Bürgerrecht auf und
eröffnete den latinischen Gemeinden gesetzlich den Zutritt;
Karthago schloss sich vollständig ab und liess den abhängigen
Districten nicht einmal die Hoffnung auf dereinstige Gleich-
stellung. Rom gönnte den stammverwandten Gemeinden
Antheil an den Früchten des Sieges, namentlich den gewon-
nenen Domänen und suchte in den übrigen unterthänigen
Staaten durch materielle Begünstigung der Vornehmen und
Reichen wenigstens eine Partei in das Interesse Roms zu
ziehen. Karthago behielt nicht bloss für sich, was die Siege
einbrachten, sondern entriss sogar den am besten gestellten
stammverwandten Städten die Handelsfreiheit. Rom nahm
auch den am schlechtesten gestellten unterworfenen Gemein-
den die Selbstständigkeit nicht ganz und legte keiner eine
feste Steuer auf; Karthago sandte überall hin seine Vögte
und belastete selbst die altphoenikischen Städte mit schwerem
Zins, während die unterworfenen Stämme factisch als Staats-
sclaven behandelt wurden. So war im karthagischen Staats-
verband nicht eine einzige Gemeinde mit Ausnahme von Utica,
die nicht durch den Sturz Karthagos politisch und materiell
gewonnen haben würde; in dem römischen nicht eine ein-
zige, die nicht viel wagte durch die Auflehnung gegen ein
Regiment, das die materiellen Interessen sorgfältig schonte
und die politische Opposition wenigstens nirgends durch äus-
serste Massregeln herausforderte zum Kampf. Wenn die kar-

KARTHAGO.
Sache zu machen mit der opponirenden Reformpartei. Deren
Macht war im Steigen in Rom wie in Karthago, aber weit schneller
stieg sie hier. Schon während des zweiten punischen Krieges hat-
ten die Volksversammlungen einen andern Charakter angenom-
men und waren sie es, die im Staate entschieden; man vernimmt
die für eine beginnende Herrschaft der städtischen Menge be-
zeichnende Klage, daſs in Karthago die Buben die Revolutionen
machen helfen. Nach Beendigung des hannibalischen Krieges
ward auf Hannibals Vorschlag sogar durchgesetzt, daſs kein
Mitglied des Raths der Hundert zwei Jahre nach einander im
Amt sein könne und damit die volle Demokratie eingeführt,
die allerdings nach der Lage der Dinge allein Karthago zu
retten im Stande war. Allein diese Verfassungsänderung trat
erst ein, als es zu spät und durch Schuld der verrotte-
ten Oligarchie der Staat schon verloren war. — Karthago
wie Rom beherrschten ihre Stammgenossen und zahlreiche
stammfremde Gemeinden. Aber Rom nahm allmählich ei-
nen District nach dem andern in sein Bürgerrecht auf und
eröffnete den latinischen Gemeinden gesetzlich den Zutritt;
Karthago schloſs sich vollständig ab und lieſs den abhängigen
Districten nicht einmal die Hoffnung auf dereinstige Gleich-
stellung. Rom gönnte den stammverwandten Gemeinden
Antheil an den Früchten des Sieges, namentlich den gewon-
nenen Domänen und suchte in den übrigen unterthänigen
Staaten durch materielle Begünstigung der Vornehmen und
Reichen wenigstens eine Partei in das Interesse Roms zu
ziehen. Karthago behielt nicht bloſs für sich, was die Siege
einbrachten, sondern entriſs sogar den am besten gestellten
stammverwandten Städten die Handelsfreiheit. Rom nahm
auch den am schlechtesten gestellten unterworfenen Gemein-
den die Selbstständigkeit nicht ganz und legte keiner eine
feste Steuer auf; Karthago sandte überall hin seine Vögte
und belastete selbst die altphoenikischen Städte mit schwerem
Zins, während die unterworfenen Stämme factisch als Staats-
sclaven behandelt wurden. So war im karthagischen Staats-
verband nicht eine einzige Gemeinde mit Ausnahme von Utica,
die nicht durch den Sturz Karthagos politisch und materiell
gewonnen haben würde; in dem römischen nicht eine ein-
zige, die nicht viel wagte durch die Auflehnung gegen ein
Regiment, das die materiellen Interessen sorgfältig schonte
und die politische Opposition wenigstens nirgends durch äus-
serste Maſsregeln herausforderte zum Kampf. Wenn die kar-

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[325/0339] KARTHAGO. Sache zu machen mit der opponirenden Reformpartei. Deren Macht war im Steigen in Rom wie in Karthago, aber weit schneller stieg sie hier. Schon während des zweiten punischen Krieges hat- ten die Volksversammlungen einen andern Charakter angenom- men und waren sie es, die im Staate entschieden; man vernimmt die für eine beginnende Herrschaft der städtischen Menge be- zeichnende Klage, daſs in Karthago die Buben die Revolutionen machen helfen. Nach Beendigung des hannibalischen Krieges ward auf Hannibals Vorschlag sogar durchgesetzt, daſs kein Mitglied des Raths der Hundert zwei Jahre nach einander im Amt sein könne und damit die volle Demokratie eingeführt, die allerdings nach der Lage der Dinge allein Karthago zu retten im Stande war. Allein diese Verfassungsänderung trat erst ein, als es zu spät und durch Schuld der verrotte- ten Oligarchie der Staat schon verloren war. — Karthago wie Rom beherrschten ihre Stammgenossen und zahlreiche stammfremde Gemeinden. Aber Rom nahm allmählich ei- nen District nach dem andern in sein Bürgerrecht auf und eröffnete den latinischen Gemeinden gesetzlich den Zutritt; Karthago schloſs sich vollständig ab und lieſs den abhängigen Districten nicht einmal die Hoffnung auf dereinstige Gleich- stellung. Rom gönnte den stammverwandten Gemeinden Antheil an den Früchten des Sieges, namentlich den gewon- nenen Domänen und suchte in den übrigen unterthänigen Staaten durch materielle Begünstigung der Vornehmen und Reichen wenigstens eine Partei in das Interesse Roms zu ziehen. Karthago behielt nicht bloſs für sich, was die Siege einbrachten, sondern entriſs sogar den am besten gestellten stammverwandten Städten die Handelsfreiheit. Rom nahm auch den am schlechtesten gestellten unterworfenen Gemein- den die Selbstständigkeit nicht ganz und legte keiner eine feste Steuer auf; Karthago sandte überall hin seine Vögte und belastete selbst die altphoenikischen Städte mit schwerem Zins, während die unterworfenen Stämme factisch als Staats- sclaven behandelt wurden. So war im karthagischen Staats- verband nicht eine einzige Gemeinde mit Ausnahme von Utica, die nicht durch den Sturz Karthagos politisch und materiell gewonnen haben würde; in dem römischen nicht eine ein- zige, die nicht viel wagte durch die Auflehnung gegen ein Regiment, das die materiellen Interessen sorgfältig schonte und die politische Opposition wenigstens nirgends durch äus- serste Maſsregeln herausforderte zum Kampf. Wenn die kar-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/339>, abgerufen am 13.05.2024.