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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
damals wie noch zu Cäsars Zeit der Gau der Bituriger (um
Bourges) stand, habe unter dem König Ambiatus zwei grosse
Heeresschwärme entsendet, geführt von den beiden Neffen des
Königs; davon sei der eine Sigovesus über den Rhein in der
Richtung auf den Schwarzwald zu vorgedrungen, der zweite
Bellovesus über die graischen Alpen (den kleinen St. Bern-
hard) in das Pothal hinabgestiegen. Von jenem stamme die
gallische Niederlassung an der mittleren Donau, von diesem die
älteste keltische Ansiedlung in der heutigen Lombardei, der
Gau der Insubrer mit dem Hauptort Mediolanum. Bald sei
ein zweiter Schwarm gefolgt, der den Gau der Cenomanen
mit den Städten Brixia (Brescia) und Verona begründet habe.
-- Unaufhörlich strömte es fortan über die Alpen in das schöne
ebene Land und die keltischen Stämme sammt den von ihnen
aufgetriebenen und fortgerissenen ligurischen entrissen den
Etruskern einen Platz nach dem andern, bis das ganze linke
Poufer in ihren Händen war. Nach dem Fall der reichen
etruskischen Stadt Melpum (vermuthlich in der Gegend von
Mailand), zu deren Bezwingung sich die schon im Pothal an-
sässigen Kelten mit neugekommenen Stämmen vereinigt hatten
(358?), gingen diese letzteren hinüber auf das rechte Ufer
des Flusses und begannen die Umbrer und Etrusker in ihren
uralten Sitzen zu bedrängen. Es waren dies die Boier, die
angeblich auf einer andern Strasse, über den pöninischen Berg
(grosser St. Bernhard) in Italien eingedrungen waren und sich
nun ansiedelten in der heutigen Romagna, wo die alte Etru-
skerstadt Felsina, von den neuen Herren Bononia umgenannt,
ihre Hauptstadt wurde; endlich die Senonen, der letzte grössere
Keltenstamm, der diesseit der Alpen, an der Küste von Rimini
bis Ancona sich angesiedelt hat.

von Massalia, wodurch jene chronologisch auf die Mitte des zweiten Jahr-
hunderts der Stadt bestimmt wird, gehört unzweifelhaft nicht der einheimi-
schen natürlich zeitlosen Sage an, sondern der spätern chronologisirenden
Forschung und verdient keinen Glauben. Einzelne Einfälle und Einwande-
rungen mögen sehr früh stattgefunden haben; aber das gewaltige Umsich-
greifen der Kelten in Norditalien kann nicht vor die Zeit des Sinkens der
etruskischen Macht, das heisst nicht vor die zweite Hälfte des dritten Jahr-
hunderts der Stadt gesetzt werden. -- Ebenso ist, nach der einsichtigen
Ausführung von Wickham und Cramer, nicht daran zu zweifeln, dass der
Zug des Bellovesus wie der des Hannibal nicht über die cottischen Alpen
(Mont Genevre) und durch das Gebiet der Tauriner, sondern über die
graischen (kleiner St. Bernhard) und das der Salasser ging; den Namen
des Berges giebt Livius wohl nicht nach der Sage, sondern nach seiner
Vermuthung an.

ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
damals wie noch zu Cäsars Zeit der Gau der Bituriger (um
Bourges) stand, habe unter dem König Ambiatus zwei groſse
Heeresschwärme entsendet, geführt von den beiden Neffen des
Königs; davon sei der eine Sigovesus über den Rhein in der
Richtung auf den Schwarzwald zu vorgedrungen, der zweite
Bellovesus über die graischen Alpen (den kleinen St. Bern-
hard) in das Pothal hinabgestiegen. Von jenem stamme die
gallische Niederlassung an der mittleren Donau, von diesem die
älteste keltische Ansiedlung in der heutigen Lombardei, der
Gau der Insubrer mit dem Hauptort Mediolanum. Bald sei
ein zweiter Schwarm gefolgt, der den Gau der Cenomanen
mit den Städten Brixia (Brescia) und Verona begründet habe.
— Unaufhörlich strömte es fortan über die Alpen in das schöne
ebene Land und die keltischen Stämme sammt den von ihnen
aufgetriebenen und fortgerissenen ligurischen entrissen den
Etruskern einen Platz nach dem andern, bis das ganze linke
Poufer in ihren Händen war. Nach dem Fall der reichen
etruskischen Stadt Melpum (vermuthlich in der Gegend von
Mailand), zu deren Bezwingung sich die schon im Pothal an-
sässigen Kelten mit neugekommenen Stämmen vereinigt hatten
(358?), gingen diese letzteren hinüber auf das rechte Ufer
des Flusses und begannen die Umbrer und Etrusker in ihren
uralten Sitzen zu bedrängen. Es waren dies die Boier, die
angeblich auf einer andern Straſse, über den pöninischen Berg
(groſser St. Bernhard) in Italien eingedrungen waren und sich
nun ansiedelten in der heutigen Romagna, wo die alte Etru-
skerstadt Felsina, von den neuen Herren Bononia umgenannt,
ihre Hauptstadt wurde; endlich die Senonen, der letzte gröſsere
Keltenstamm, der diesseit der Alpen, an der Küste von Rimini
bis Ancona sich angesiedelt hat.

von Massalia, wodurch jene chronologisch auf die Mitte des zweiten Jahr-
hunderts der Stadt bestimmt wird, gehört unzweifelhaft nicht der einheimi-
schen natürlich zeitlosen Sage an, sondern der spätern chronologisirenden
Forschung und verdient keinen Glauben. Einzelne Einfälle und Einwande-
rungen mögen sehr früh stattgefunden haben; aber das gewaltige Umsich-
greifen der Kelten in Norditalien kann nicht vor die Zeit des Sinkens der
etruskischen Macht, das heiſst nicht vor die zweite Hälfte des dritten Jahr-
hunderts der Stadt gesetzt werden. — Ebenso ist, nach der einsichtigen
Ausführung von Wickham und Cramer, nicht daran zu zweifeln, daſs der
Zug des Bellovesus wie der des Hannibal nicht über die cottischen Alpen
(Mont Genevre) und durch das Gebiet der Tauriner, sondern über die
graischen (kleiner St. Bernhard) und das der Salasser ging; den Namen
des Berges giebt Livius wohl nicht nach der Sage, sondern nach seiner
Vermuthung an.
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[210/0224] ZWEITES BUCH. KAPITEL IV. damals wie noch zu Cäsars Zeit der Gau der Bituriger (um Bourges) stand, habe unter dem König Ambiatus zwei groſse Heeresschwärme entsendet, geführt von den beiden Neffen des Königs; davon sei der eine Sigovesus über den Rhein in der Richtung auf den Schwarzwald zu vorgedrungen, der zweite Bellovesus über die graischen Alpen (den kleinen St. Bern- hard) in das Pothal hinabgestiegen. Von jenem stamme die gallische Niederlassung an der mittleren Donau, von diesem die älteste keltische Ansiedlung in der heutigen Lombardei, der Gau der Insubrer mit dem Hauptort Mediolanum. Bald sei ein zweiter Schwarm gefolgt, der den Gau der Cenomanen mit den Städten Brixia (Brescia) und Verona begründet habe. — Unaufhörlich strömte es fortan über die Alpen in das schöne ebene Land und die keltischen Stämme sammt den von ihnen aufgetriebenen und fortgerissenen ligurischen entrissen den Etruskern einen Platz nach dem andern, bis das ganze linke Poufer in ihren Händen war. Nach dem Fall der reichen etruskischen Stadt Melpum (vermuthlich in der Gegend von Mailand), zu deren Bezwingung sich die schon im Pothal an- sässigen Kelten mit neugekommenen Stämmen vereinigt hatten (358?), gingen diese letzteren hinüber auf das rechte Ufer des Flusses und begannen die Umbrer und Etrusker in ihren uralten Sitzen zu bedrängen. Es waren dies die Boier, die angeblich auf einer andern Straſse, über den pöninischen Berg (groſser St. Bernhard) in Italien eingedrungen waren und sich nun ansiedelten in der heutigen Romagna, wo die alte Etru- skerstadt Felsina, von den neuen Herren Bononia umgenannt, ihre Hauptstadt wurde; endlich die Senonen, der letzte gröſsere Keltenstamm, der diesseit der Alpen, an der Küste von Rimini bis Ancona sich angesiedelt hat. * * von Massalia, wodurch jene chronologisch auf die Mitte des zweiten Jahr- hunderts der Stadt bestimmt wird, gehört unzweifelhaft nicht der einheimi- schen natürlich zeitlosen Sage an, sondern der spätern chronologisirenden Forschung und verdient keinen Glauben. Einzelne Einfälle und Einwande- rungen mögen sehr früh stattgefunden haben; aber das gewaltige Umsich- greifen der Kelten in Norditalien kann nicht vor die Zeit des Sinkens der etruskischen Macht, das heiſst nicht vor die zweite Hälfte des dritten Jahr- hunderts der Stadt gesetzt werden. — Ebenso ist, nach der einsichtigen Ausführung von Wickham und Cramer, nicht daran zu zweifeln, daſs der Zug des Bellovesus wie der des Hannibal nicht über die cottischen Alpen (Mont Genevre) und durch das Gebiet der Tauriner, sondern über die graischen (kleiner St. Bernhard) und das der Salasser ging; den Namen des Berges giebt Livius wohl nicht nach der Sage, sondern nach seiner Vermuthung an.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/224>, abgerufen am 22.11.2024.