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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ZWEITES BUCH. KAPITEL III.
zulässt, unerlässliches Bedürfniss ist. Ein eigenthümliches
strenges Sittengericht, das allmählich an die Schatzung und
die Aufnahme der Bürgerliste sich anknüpfte, schloss überdiess
aus den Reihen der Bürgerschaft alle notorisch unwürdigen
Individuen aus und wahrte der Bürgerehre ihre volle sittliche
und politische Reinheit. -- Was die Competenz der Comitien
anlangt, so zeigt diese die Tendenz sich allmählich, aber sehr
langsam zu erweitern. Schon die Vermehrung der vom Volk
gewählten Magistrate gehört gewissermassen hierher; bezeich-
nend ist, dass seit 392 die Kriegstribune einer Legion, seit
443 je vier in jeder der vier ersten Legionen nicht mehr
vom Feldherrn, sondern von der Bürgerschaft ernannt wurden.
In die Administration griff während dieser Periode die Bür-
gerschaft im Ganzen nicht ein; nur das Recht der Kriegser-
klärung wurde von ihr, wie billig, mit Nachdruck festgehalten
und namentlich auch für den Fall festgestellt, wo ein anstatt
des Friedens auf eine Reihe von Jahren abgeschlossener Waf-
fenstillstand ablief und zu entscheiden stand, ob der Krieg
factisch wieder beginnen solle (327). Sonst ward eine Ver-
waltungsfrage nur an das Volk gebracht, wenn entweder der
höchste Beamte mit dem Senat in Collision gerieth und sich
an das Volk wandte -- so als den Führern der Volkspartei
unter dem Adel Lucius Valerius und Marcus Horatius im Jahre
305 und dem ersten plebejischen Dictator Gaius Marcius Ru-
tilus im Jahre 398 vom Senat die verdienten Triumphe nicht
zugestanden wurden; ferner als der Senat gegen den Willen
des Consulartribuns die Auslieferung des pflichtvergessenen
Gesandten an die Gallier im Jahre 364 beschloss -- es war
dies der erste Fall, wo ein Senatsbeschluss vom Volke cassirt
ward und schwer hat ihn die Gemeinde gebüsst. Oder Senat
und Beamte einigten sich in schwierigen und gehässigen Fragen
dem Volk die Entscheidung anheimzugeben; so zuerst, als
Caere, nachdem ihm das Volk den Krieg erklärt hatte, ehe
dies er wirklich begann, um Frieden bat (401), wo der Senat
Bedenken trug den Volksschluss ohne Weiteres aufzuheben;
und später als der Senat den demüthig von den Samniten
erbetenen Frieden abzuschlagen wünschte, aber die Gehässig-
keit der Erklärung scheuend sie dem Volke überliess (436).
Erst gegen das Ende dieser Periode finden wir eine bedeu-
tend erweiterte Competenz der Districtversammlung auch in
Verwaltungsangelegenheiten, namentlich eine Befragung der-
selben bei Friedensschlüssen und Bündnissen; es ist wahr-

ZWEITES BUCH. KAPITEL III.
zuläſst, unerläſsliches Bedürfniſs ist. Ein eigenthümliches
strenges Sittengericht, das allmählich an die Schatzung und
die Aufnahme der Bürgerliste sich anknüpfte, schloſs überdieſs
aus den Reihen der Bürgerschaft alle notorisch unwürdigen
Individuen aus und wahrte der Bürgerehre ihre volle sittliche
und politische Reinheit. — Was die Competenz der Comitien
anlangt, so zeigt diese die Tendenz sich allmählich, aber sehr
langsam zu erweitern. Schon die Vermehrung der vom Volk
gewählten Magistrate gehört gewissermaſsen hierher; bezeich-
nend ist, daſs seit 392 die Kriegstribune einer Legion, seit
443 je vier in jeder der vier ersten Legionen nicht mehr
vom Feldherrn, sondern von der Bürgerschaft ernannt wurden.
In die Administration griff während dieser Periode die Bür-
gerschaft im Ganzen nicht ein; nur das Recht der Kriegser-
klärung wurde von ihr, wie billig, mit Nachdruck festgehalten
und namentlich auch für den Fall festgestellt, wo ein anstatt
des Friedens auf eine Reihe von Jahren abgeschlossener Waf-
fenstillstand ablief und zu entscheiden stand, ob der Krieg
factisch wieder beginnen solle (327). Sonst ward eine Ver-
waltungsfrage nur an das Volk gebracht, wenn entweder der
höchste Beamte mit dem Senat in Collision gerieth und sich
an das Volk wandte — so als den Führern der Volkspartei
unter dem Adel Lucius Valerius und Marcus Horatius im Jahre
305 und dem ersten plebejischen Dictator Gaius Marcius Ru-
tilus im Jahre 398 vom Senat die verdienten Triumphe nicht
zugestanden wurden; ferner als der Senat gegen den Willen
des Consulartribuns die Auslieferung des pflichtvergessenen
Gesandten an die Gallier im Jahre 364 beschloſs — es war
dies der erste Fall, wo ein Senatsbeschluſs vom Volke cassirt
ward und schwer hat ihn die Gemeinde gebüſst. Oder Senat
und Beamte einigten sich in schwierigen und gehässigen Fragen
dem Volk die Entscheidung anheimzugeben; so zuerst, als
Caere, nachdem ihm das Volk den Krieg erklärt hatte, ehe
dies er wirklich begann, um Frieden bat (401), wo der Senat
Bedenken trug den Volksschluſs ohne Weiteres aufzuheben;
und später als der Senat den demüthig von den Samniten
erbetenen Frieden abzuschlagen wünschte, aber die Gehässig-
keit der Erklärung scheuend sie dem Volke überlieſs (436).
Erst gegen das Ende dieser Periode finden wir eine bedeu-
tend erweiterte Competenz der Districtversammlung auch in
Verwaltungsangelegenheiten, namentlich eine Befragung der-
selben bei Friedensschlüssen und Bündnissen; es ist wahr-

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[198/0212] ZWEITES BUCH. KAPITEL III. zuläſst, unerläſsliches Bedürfniſs ist. Ein eigenthümliches strenges Sittengericht, das allmählich an die Schatzung und die Aufnahme der Bürgerliste sich anknüpfte, schloſs überdieſs aus den Reihen der Bürgerschaft alle notorisch unwürdigen Individuen aus und wahrte der Bürgerehre ihre volle sittliche und politische Reinheit. — Was die Competenz der Comitien anlangt, so zeigt diese die Tendenz sich allmählich, aber sehr langsam zu erweitern. Schon die Vermehrung der vom Volk gewählten Magistrate gehört gewissermaſsen hierher; bezeich- nend ist, daſs seit 392 die Kriegstribune einer Legion, seit 443 je vier in jeder der vier ersten Legionen nicht mehr vom Feldherrn, sondern von der Bürgerschaft ernannt wurden. In die Administration griff während dieser Periode die Bür- gerschaft im Ganzen nicht ein; nur das Recht der Kriegser- klärung wurde von ihr, wie billig, mit Nachdruck festgehalten und namentlich auch für den Fall festgestellt, wo ein anstatt des Friedens auf eine Reihe von Jahren abgeschlossener Waf- fenstillstand ablief und zu entscheiden stand, ob der Krieg factisch wieder beginnen solle (327). Sonst ward eine Ver- waltungsfrage nur an das Volk gebracht, wenn entweder der höchste Beamte mit dem Senat in Collision gerieth und sich an das Volk wandte — so als den Führern der Volkspartei unter dem Adel Lucius Valerius und Marcus Horatius im Jahre 305 und dem ersten plebejischen Dictator Gaius Marcius Ru- tilus im Jahre 398 vom Senat die verdienten Triumphe nicht zugestanden wurden; ferner als der Senat gegen den Willen des Consulartribuns die Auslieferung des pflichtvergessenen Gesandten an die Gallier im Jahre 364 beschloſs — es war dies der erste Fall, wo ein Senatsbeschluſs vom Volke cassirt ward und schwer hat ihn die Gemeinde gebüſst. Oder Senat und Beamte einigten sich in schwierigen und gehässigen Fragen dem Volk die Entscheidung anheimzugeben; so zuerst, als Caere, nachdem ihm das Volk den Krieg erklärt hatte, ehe dies er wirklich begann, um Frieden bat (401), wo der Senat Bedenken trug den Volksschluſs ohne Weiteres aufzuheben; und später als der Senat den demüthig von den Samniten erbetenen Frieden abzuschlagen wünschte, aber die Gehässig- keit der Erklärung scheuend sie dem Volke überlieſs (436). Erst gegen das Ende dieser Periode finden wir eine bedeu- tend erweiterte Competenz der Districtversammlung auch in Verwaltungsangelegenheiten, namentlich eine Befragung der- selben bei Friedensschlüssen und Bündnissen; es ist wahr-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/212>, abgerufen am 25.11.2024.