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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.
pel der Göttin der Erinnerung (Iuno moneta) auf dem Capitol
bewahrten Verzeichnisse der römischen Magistrate, die Vor-
läufer der städtischen Chronik. Es wird kaum noch nöthig
sein zu erinnern an das uralte Marken des Hutviehs (scriptura),
an die Anrede im Senat ,Väter und Zugeschriebene' (patres
conscripti
), an das hohe Alter der Orakelbücher, der Ge-
schlechtsregister, des albanischen und des römischen Kalen-
ders. Nicht die Unkunde der Schrift, vielleicht nicht einmal
der Mangel an Documenten hat uns die Kunde der ältesten
römischen Geschichte entzogen, sondern die Unfähigkeit der
späteren Historiker die archivalischen Nachrichten zu verarbeiten
und ihre Verkehrtheit nach Schilderung von Motiven und Cha-
rakteren, nach Schlachtberichten und Revolutionserzählungen
in der Tradition zu suchen, und darüber das zu verkennen,
was sie dem ernsten und entsagenden Forscher nicht verwei-
gert haben würde.

Werfen wir noch einen Blick zurück auf die also bezeich-
nete Geschichte der italischen Schrift, so ist vor allem bemer-
kenswerth die schwache und indirecte Einwirkung des helle-
nischen Wesens auf die Sabeller im Gegensatz zu den west-
licheren Völkern. Dass jene das Alphabet von den Etruskern,
nicht von den Römern empfingen, erklärt sich wahrscheinlich
daraus, dass sie das Alphabet erhielten ehe sie den Zug auf
dem Rücken des Apennin antraten, die Sabiner wie die Sam-
niten also schon bei ihrer Entlassung aus dem Mutterlande das
Alphabet mit sich nahmen. Andererseits enthält diese Ge-
schichte der Schrift eine heilsame Warnung gegen die An-
nahme, welche die spätere der etruskischen Mystik und Alter-
thumströdelei ergebene römische Bildung aufgebracht hat und
welche die neuere und neueste Forschung geduldig wieder-
holt, dass die römische Civilisation ihren Keim und ihren Kern
aus Etrurien entlehnt habe. Wäre dies wahr, so müsste hier
vor allem eine Spur davon sich zeigen; aber gerade umge-
kehrt findet sich in Latium der Keim der Schreibkunst grie-
chisch, der Entwicklung national; selbst das den Römern so
wünschenswerthe Zeichen f ward nicht aufgenommen, ja wo
Entlehnung sich zeigt, in den Zahlzeichen, sind es vielmehr
die Etrusker, die von den Römern wenigstens das Zeichen
für 50 entlehnt haben. -- Es ist ferner charakteristisch, dass
in allen italischen Stämmen die Entwicklung des griechischen
Alphabets zunächst in einer Verderbung desselben besteht,
gegen welche dann späterhin bei den meisten wiederum eine

ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.
pel der Göttin der Erinnerung (Iuno moneta) auf dem Capitol
bewahrten Verzeichnisse der römischen Magistrate, die Vor-
läufer der städtischen Chronik. Es wird kaum noch nöthig
sein zu erinnern an das uralte Marken des Hutviehs (scriptura),
an die Anrede im Senat ‚Väter und Zugeschriebene‘ (patres
conscripti
), an das hohe Alter der Orakelbücher, der Ge-
schlechtsregister, des albanischen und des römischen Kalen-
ders. Nicht die Unkunde der Schrift, vielleicht nicht einmal
der Mangel an Documenten hat uns die Kunde der ältesten
römischen Geschichte entzogen, sondern die Unfähigkeit der
späteren Historiker die archivalischen Nachrichten zu verarbeiten
und ihre Verkehrtheit nach Schilderung von Motiven und Cha-
rakteren, nach Schlachtberichten und Revolutionserzählungen
in der Tradition zu suchen, und darüber das zu verkennen,
was sie dem ernsten und entsagenden Forscher nicht verwei-
gert haben würde.

Werfen wir noch einen Blick zurück auf die also bezeich-
nete Geschichte der italischen Schrift, so ist vor allem bemer-
kenswerth die schwache und indirecte Einwirkung des helle-
nischen Wesens auf die Sabeller im Gegensatz zu den west-
licheren Völkern. Daſs jene das Alphabet von den Etruskern,
nicht von den Römern empfingen, erklärt sich wahrscheinlich
daraus, daſs sie das Alphabet erhielten ehe sie den Zug auf
dem Rücken des Apennin antraten, die Sabiner wie die Sam-
niten also schon bei ihrer Entlassung aus dem Mutterlande das
Alphabet mit sich nahmen. Andererseits enthält diese Ge-
schichte der Schrift eine heilsame Warnung gegen die An-
nahme, welche die spätere der etruskischen Mystik und Alter-
thumströdelei ergebene römische Bildung aufgebracht hat und
welche die neuere und neueste Forschung geduldig wieder-
holt, daſs die römische Civilisation ihren Keim und ihren Kern
aus Etrurien entlehnt habe. Wäre dies wahr, so müſste hier
vor allem eine Spur davon sich zeigen; aber gerade umge-
kehrt findet sich in Latium der Keim der Schreibkunst grie-
chisch, der Entwicklung national; selbst das den Römern so
wünschenswerthe Zeichen f ward nicht aufgenommen, ja wo
Entlehnung sich zeigt, in den Zahlzeichen, sind es vielmehr
die Etrusker, die von den Römern wenigstens das Zeichen
für 50 entlehnt haben. — Es ist ferner charakteristisch, daſs
in allen italischen Stämmen die Entwicklung des griechischen
Alphabets zunächst in einer Verderbung desselben besteht,
gegen welche dann späterhin bei den meisten wiederum eine

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[144/0158] ERSTES BUCH. KAPITEL XIV. pel der Göttin der Erinnerung (Iuno moneta) auf dem Capitol bewahrten Verzeichnisse der römischen Magistrate, die Vor- läufer der städtischen Chronik. Es wird kaum noch nöthig sein zu erinnern an das uralte Marken des Hutviehs (scriptura), an die Anrede im Senat ‚Väter und Zugeschriebene‘ (patres conscripti), an das hohe Alter der Orakelbücher, der Ge- schlechtsregister, des albanischen und des römischen Kalen- ders. Nicht die Unkunde der Schrift, vielleicht nicht einmal der Mangel an Documenten hat uns die Kunde der ältesten römischen Geschichte entzogen, sondern die Unfähigkeit der späteren Historiker die archivalischen Nachrichten zu verarbeiten und ihre Verkehrtheit nach Schilderung von Motiven und Cha- rakteren, nach Schlachtberichten und Revolutionserzählungen in der Tradition zu suchen, und darüber das zu verkennen, was sie dem ernsten und entsagenden Forscher nicht verwei- gert haben würde. Werfen wir noch einen Blick zurück auf die also bezeich- nete Geschichte der italischen Schrift, so ist vor allem bemer- kenswerth die schwache und indirecte Einwirkung des helle- nischen Wesens auf die Sabeller im Gegensatz zu den west- licheren Völkern. Daſs jene das Alphabet von den Etruskern, nicht von den Römern empfingen, erklärt sich wahrscheinlich daraus, daſs sie das Alphabet erhielten ehe sie den Zug auf dem Rücken des Apennin antraten, die Sabiner wie die Sam- niten also schon bei ihrer Entlassung aus dem Mutterlande das Alphabet mit sich nahmen. Andererseits enthält diese Ge- schichte der Schrift eine heilsame Warnung gegen die An- nahme, welche die spätere der etruskischen Mystik und Alter- thumströdelei ergebene römische Bildung aufgebracht hat und welche die neuere und neueste Forschung geduldig wieder- holt, daſs die römische Civilisation ihren Keim und ihren Kern aus Etrurien entlehnt habe. Wäre dies wahr, so müſste hier vor allem eine Spur davon sich zeigen; aber gerade umge- kehrt findet sich in Latium der Keim der Schreibkunst grie- chisch, der Entwicklung national; selbst das den Römern so wünschenswerthe Zeichen f ward nicht aufgenommen, ja wo Entlehnung sich zeigt, in den Zahlzeichen, sind es vielmehr die Etrusker, die von den Römern wenigstens das Zeichen für 50 entlehnt haben. — Es ist ferner charakteristisch, daſs in allen italischen Stämmen die Entwicklung des griechischen Alphabets zunächst in einer Verderbung desselben besteht, gegen welche dann späterhin bei den meisten wiederum eine

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/158>, abgerufen am 24.11.2024.