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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.
kam, verzeichnet ist, daneben ein daraus gebildetes etruskisches
Syllabarium, jenem des Palamedes vergleichbar; offenbar eine
heilige Reliquie der Einführung und Acclimatisirung der Buch-
stabenschrift in Etrurien.

Nicht minder wichtig als die Entlehnung des Alphabets
ist für die Geschichte dessen weitere Entwicklung auf itali-
schem Boden, ja vielleicht noch wichtiger; denn hiedurch fällt
ein Lichtstrahl in den italischen Binnenverkehr, der noch weit
mehr im Dunkeln liegt als der Verkehr an den Küsten mit
den Fremden. In der ältesten Epoche des etruskischen Al-
phabets, in der man sich im Wesentlichen des eingeführten
Alphabets unverändert bediente, scheint der Gebrauch dessel-
ben sich auf die Etrusker am Po und in Toscana beschränkt
zu haben; Verzweigungen dieses Alphabets sind alsdann, offen-
bar von Hatria und Spina aus, südlich an der Ostküste hinab
bis in die Abruzzen, nördlich zu den Venetern und später
sogar zu den Kelten an und in, ja jenseit der Alpen gelangt,
so dass die letzten Ausläufer desselben bis nach Tirol und
Steiermark reichen. Die jüngere Epoche geht aus von einer
Reform des Alphabets, welche sich hauptsächlich erstreckt auf
die Einführung abgesetzter Zeilenschrift, auf die Unterdrückung
des o, das man im Sprechen vom u nicht mehr zu schei-
den wusste, und auf die Einführung eines neuen Buchstaben
f, wofür dem überlieferten Alphabet das entsprechende Zeichen
mangelte. Diese Reform ist offenbar entstanden bei den west-
lichen Etruskern und hat, während sie sich jenseit des Apennin
nicht verbreitete, dagegen bei sämmtlichen sabellischen Stämmen,
zunächst bei den Umbrern sich eingebürgert, wo das Alphabet
denn wieder bei jedem einzelnen Stamm, den Etruskern am Arno
und um Capua, den Umbrern und Samniten seine besonderen
Schicksale erfahren, häufig die Mediae ganz oder zum Theil
verloren, anderswo wieder neue Vocale und Consonanten ent-
wickelt hat. Diese Reform des Alphabets ist nicht bloss so
alt wie die ältesten in Etrurien gefundenen Gräber, sondern
beträchtlich älter, da das erwähnte in einem derselben ge-
fundene Syllabarium das reformirte Alphabet bereits in einer
wesentlich modificirten und modernisirten Gestalt giebt; und
da das reformirte selbst wieder gegen das primitive gehalten
relativ jung ist, so versagt sich fast der Gedanke dem Zurück-
gehen in jene Zeit, wo dies Alphabet nach Italien gelangt ist.
-- Erscheinen sonach die Etrusker als die Verbreiter des Al-
phabets im Norden, Osten und Süden der Halbinsel, so hat

ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.
kam, verzeichnet ist, daneben ein daraus gebildetes etruskisches
Syllabarium, jenem des Palamedes vergleichbar; offenbar eine
heilige Reliquie der Einführung und Acclimatisirung der Buch-
stabenschrift in Etrurien.

Nicht minder wichtig als die Entlehnung des Alphabets
ist für die Geschichte dessen weitere Entwicklung auf itali-
schem Boden, ja vielleicht noch wichtiger; denn hiedurch fällt
ein Lichtstrahl in den italischen Binnenverkehr, der noch weit
mehr im Dunkeln liegt als der Verkehr an den Küsten mit
den Fremden. In der ältesten Epoche des etruskischen Al-
phabets, in der man sich im Wesentlichen des eingeführten
Alphabets unverändert bediente, scheint der Gebrauch dessel-
ben sich auf die Etrusker am Po und in Toscana beschränkt
zu haben; Verzweigungen dieses Alphabets sind alsdann, offen-
bar von Hatria und Spina aus, südlich an der Ostküste hinab
bis in die Abruzzen, nördlich zu den Venetern und später
sogar zu den Kelten an und in, ja jenseit der Alpen gelangt,
so daſs die letzten Ausläufer desselben bis nach Tirol und
Steiermark reichen. Die jüngere Epoche geht aus von einer
Reform des Alphabets, welche sich hauptsächlich erstreckt auf
die Einführung abgesetzter Zeilenschrift, auf die Unterdrückung
des o, das man im Sprechen vom u nicht mehr zu schei-
den wuſste, und auf die Einführung eines neuen Buchstaben
f, wofür dem überlieferten Alphabet das entsprechende Zeichen
mangelte. Diese Reform ist offenbar entstanden bei den west-
lichen Etruskern und hat, während sie sich jenseit des Apennin
nicht verbreitete, dagegen bei sämmtlichen sabellischen Stämmen,
zunächst bei den Umbrern sich eingebürgert, wo das Alphabet
denn wieder bei jedem einzelnen Stamm, den Etruskern am Arno
und um Capua, den Umbrern und Samniten seine besonderen
Schicksale erfahren, häufig die Mediae ganz oder zum Theil
verloren, anderswo wieder neue Vocale und Consonanten ent-
wickelt hat. Diese Reform des Alphabets ist nicht bloſs so
alt wie die ältesten in Etrurien gefundenen Gräber, sondern
beträchtlich älter, da das erwähnte in einem derselben ge-
fundene Syllabarium das reformirte Alphabet bereits in einer
wesentlich modificirten und modernisirten Gestalt giebt; und
da das reformirte selbst wieder gegen das primitive gehalten
relativ jung ist, so versagt sich fast der Gedanke dem Zurück-
gehen in jene Zeit, wo dies Alphabet nach Italien gelangt ist.
— Erscheinen sonach die Etrusker als die Verbreiter des Al-
phabets im Norden, Osten und Süden der Halbinsel, so hat

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[142/0156] ERSTES BUCH. KAPITEL XIV. kam, verzeichnet ist, daneben ein daraus gebildetes etruskisches Syllabarium, jenem des Palamedes vergleichbar; offenbar eine heilige Reliquie der Einführung und Acclimatisirung der Buch- stabenschrift in Etrurien. Nicht minder wichtig als die Entlehnung des Alphabets ist für die Geschichte dessen weitere Entwicklung auf itali- schem Boden, ja vielleicht noch wichtiger; denn hiedurch fällt ein Lichtstrahl in den italischen Binnenverkehr, der noch weit mehr im Dunkeln liegt als der Verkehr an den Küsten mit den Fremden. In der ältesten Epoche des etruskischen Al- phabets, in der man sich im Wesentlichen des eingeführten Alphabets unverändert bediente, scheint der Gebrauch dessel- ben sich auf die Etrusker am Po und in Toscana beschränkt zu haben; Verzweigungen dieses Alphabets sind alsdann, offen- bar von Hatria und Spina aus, südlich an der Ostküste hinab bis in die Abruzzen, nördlich zu den Venetern und später sogar zu den Kelten an und in, ja jenseit der Alpen gelangt, so daſs die letzten Ausläufer desselben bis nach Tirol und Steiermark reichen. Die jüngere Epoche geht aus von einer Reform des Alphabets, welche sich hauptsächlich erstreckt auf die Einführung abgesetzter Zeilenschrift, auf die Unterdrückung des o, das man im Sprechen vom u nicht mehr zu schei- den wuſste, und auf die Einführung eines neuen Buchstaben f, wofür dem überlieferten Alphabet das entsprechende Zeichen mangelte. Diese Reform ist offenbar entstanden bei den west- lichen Etruskern und hat, während sie sich jenseit des Apennin nicht verbreitete, dagegen bei sämmtlichen sabellischen Stämmen, zunächst bei den Umbrern sich eingebürgert, wo das Alphabet denn wieder bei jedem einzelnen Stamm, den Etruskern am Arno und um Capua, den Umbrern und Samniten seine besonderen Schicksale erfahren, häufig die Mediae ganz oder zum Theil verloren, anderswo wieder neue Vocale und Consonanten ent- wickelt hat. Diese Reform des Alphabets ist nicht bloſs so alt wie die ältesten in Etrurien gefundenen Gräber, sondern beträchtlich älter, da das erwähnte in einem derselben ge- fundene Syllabarium das reformirte Alphabet bereits in einer wesentlich modificirten und modernisirten Gestalt giebt; und da das reformirte selbst wieder gegen das primitive gehalten relativ jung ist, so versagt sich fast der Gedanke dem Zurück- gehen in jene Zeit, wo dies Alphabet nach Italien gelangt ist. — Erscheinen sonach die Etrusker als die Verbreiter des Al- phabets im Norden, Osten und Süden der Halbinsel, so hat

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/156>, abgerufen am 24.11.2024.