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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.
Congius oder Chus, der Sextarius, der Cyathus, die beiden
letzteren auch für trockene Waaren; die römische Amphora
ist im Wassergewicht dem attischen Talent gleichgesetzt und
steht zugleich im festen Verhältniss zu dem griechischen Me-
tretes von 3 : 2, zu dem griechischen Medimnos von 2 : 1.
Lebendig und deutlich ist noch für den, der solche Schrift
zu lesen versteht, in diesen Namen und Zahlen die ganze
Regsamkeit und Bedeutung jenes sicilisch-latinischen Verkehrs
geschrieben. -- Die griechischen Zahlzeichen nahm man nicht
auf; wohl aber benutzte der Römer das griechische Alphabet,
als ihm dies zukam, um aus den ihm unnützen Zeichen der
drei Hauchbuchstaben die Ziffern 50, 100 und 1000 zu gestalten.
In Etrurien scheint man auf ähnlichem Wege wenigstens das
Zeichen für 100 gewonnen zu haben. Später setzte sich wie
gewöhnlich das Ziffersystem beider Völker ins Gleiche, indem
das römische im Wesentlichen in Etrurien angenommen ward.

Jünger als die Messkunst ist die Kunst der Lautschrift.
Wie schwierig die erste Individualisirung der in so mannich-
faltigen Verbindungen auftretenden Laute gewesen sein muss,
beweist am besten die Thatsache, dass für alle Staaten des an-
tiken Civilisationsgebietes der Mittelmeerstaaten nur ein einziges
Alphabet erfunden worden ist, das von den Erfindern auf die
übrigen Völker übertragen ward. Es sind zwei Epochen zu
unterscheiden in dieser bedeutsamen Schöpfung des Menschen-
geistes. Die semitische Sprache, in der der Vocal untergeord-
neter Natur ist und kein Wort beginnen kann, erleichtert eben
desshalb die Individualisirung der Consonanten; wesshalb denn
auch hier bei dem regen Schiffervolk der Phoeniker das älteste
Alphabet erfunden worden ist, in dem aber die Vocale noch
mangeln. Den Griechen war es vorbehalten diese zuzufügen,
oder, wie Euripides seinen Palamedes sagen lässt:

Heilmittel also ordnend der Vergessenheit
Fügt' ich lautlos' und lautende in Silben ein
Und fand des Schreibens Wissenschaft den Sterblichen.

Dies Alphabet ist denn auch den Italikern zugebracht wor-
den, zwar in sehr früher Zeit, aber dennoch nachdem das
Alphabet schon in Griechenland eine bedeutende Entwicklung
durchlaufen hatte und schon mehrfache Reformen eingetreten
waren, namentlich die Hinzufügung von drei neuen Buchstaben
x ph kh und die Abänderung der Zeichen für g l i *. Auch

* Siehe Seite 92 Note**.

ERSTES BUCH. KAPITEL XIV.
Congius oder Chus, der Sextarius, der Cyathus, die beiden
letzteren auch für trockene Waaren; die römische Amphora
ist im Wassergewicht dem attischen Talent gleichgesetzt und
steht zugleich im festen Verhältniſs zu dem griechischen Me-
tretes von 3 : 2, zu dem griechischen Medimnos von 2 : 1.
Lebendig und deutlich ist noch für den, der solche Schrift
zu lesen versteht, in diesen Namen und Zahlen die ganze
Regsamkeit und Bedeutung jenes sicilisch-latinischen Verkehrs
geschrieben. — Die griechischen Zahlzeichen nahm man nicht
auf; wohl aber benutzte der Römer das griechische Alphabet,
als ihm dies zukam, um aus den ihm unnützen Zeichen der
drei Hauchbuchstaben die Ziffern 50, 100 und 1000 zu gestalten.
In Etrurien scheint man auf ähnlichem Wege wenigstens das
Zeichen für 100 gewonnen zu haben. Später setzte sich wie
gewöhnlich das Ziffersystem beider Völker ins Gleiche, indem
das römische im Wesentlichen in Etrurien angenommen ward.

Jünger als die Meſskunst ist die Kunst der Lautschrift.
Wie schwierig die erste Individualisirung der in so mannich-
faltigen Verbindungen auftretenden Laute gewesen sein muſs,
beweist am besten die Thatsache, daſs für alle Staaten des an-
tiken Civilisationsgebietes der Mittelmeerstaaten nur ein einziges
Alphabet erfunden worden ist, das von den Erfindern auf die
übrigen Völker übertragen ward. Es sind zwei Epochen zu
unterscheiden in dieser bedeutsamen Schöpfung des Menschen-
geistes. Die semitische Sprache, in der der Vocal untergeord-
neter Natur ist und kein Wort beginnen kann, erleichtert eben
deſshalb die Individualisirung der Consonanten; weſshalb denn
auch hier bei dem regen Schiffervolk der Phoeniker das älteste
Alphabet erfunden worden ist, in dem aber die Vocale noch
mangeln. Den Griechen war es vorbehalten diese zuzufügen,
oder, wie Euripides seinen Palamedes sagen läſst:

Heilmittel also ordnend der Vergessenheit
Fügt' ich lautlos' und lautende in Silben ein
Und fand des Schreibens Wissenschaft den Sterblichen.

Dies Alphabet ist denn auch den Italikern zugebracht wor-
den, zwar in sehr früher Zeit, aber dennoch nachdem das
Alphabet schon in Griechenland eine bedeutende Entwicklung
durchlaufen hatte und schon mehrfache Reformen eingetreten
waren, namentlich die Hinzufügung von drei neuen Buchstaben
ξ φ χ und die Abänderung der Zeichen für γ λ ι *. Auch

* Siehe Seite 92 Note**.
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[140/0154] ERSTES BUCH. KAPITEL XIV. Congius oder Chus, der Sextarius, der Cyathus, die beiden letzteren auch für trockene Waaren; die römische Amphora ist im Wassergewicht dem attischen Talent gleichgesetzt und steht zugleich im festen Verhältniſs zu dem griechischen Me- tretes von 3 : 2, zu dem griechischen Medimnos von 2 : 1. Lebendig und deutlich ist noch für den, der solche Schrift zu lesen versteht, in diesen Namen und Zahlen die ganze Regsamkeit und Bedeutung jenes sicilisch-latinischen Verkehrs geschrieben. — Die griechischen Zahlzeichen nahm man nicht auf; wohl aber benutzte der Römer das griechische Alphabet, als ihm dies zukam, um aus den ihm unnützen Zeichen der drei Hauchbuchstaben die Ziffern 50, 100 und 1000 zu gestalten. In Etrurien scheint man auf ähnlichem Wege wenigstens das Zeichen für 100 gewonnen zu haben. Später setzte sich wie gewöhnlich das Ziffersystem beider Völker ins Gleiche, indem das römische im Wesentlichen in Etrurien angenommen ward. Jünger als die Meſskunst ist die Kunst der Lautschrift. Wie schwierig die erste Individualisirung der in so mannich- faltigen Verbindungen auftretenden Laute gewesen sein muſs, beweist am besten die Thatsache, daſs für alle Staaten des an- tiken Civilisationsgebietes der Mittelmeerstaaten nur ein einziges Alphabet erfunden worden ist, das von den Erfindern auf die übrigen Völker übertragen ward. Es sind zwei Epochen zu unterscheiden in dieser bedeutsamen Schöpfung des Menschen- geistes. Die semitische Sprache, in der der Vocal untergeord- neter Natur ist und kein Wort beginnen kann, erleichtert eben deſshalb die Individualisirung der Consonanten; weſshalb denn auch hier bei dem regen Schiffervolk der Phoeniker das älteste Alphabet erfunden worden ist, in dem aber die Vocale noch mangeln. Den Griechen war es vorbehalten diese zuzufügen, oder, wie Euripides seinen Palamedes sagen läſst: Heilmittel also ordnend der Vergessenheit Fügt' ich lautlos' und lautende in Silben ein Und fand des Schreibens Wissenschaft den Sterblichen. Dies Alphabet ist denn auch den Italikern zugebracht wor- den, zwar in sehr früher Zeit, aber dennoch nachdem das Alphabet schon in Griechenland eine bedeutende Entwicklung durchlaufen hatte und schon mehrfache Reformen eingetreten waren, namentlich die Hinzufügung von drei neuen Buchstaben ξ φ χ und die Abänderung der Zeichen für γ λ ι *. Auch * Siehe Seite 92 Note**.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/154>, abgerufen am 06.05.2024.