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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
der Gefangenen einschliesst -- so schlachtete man in Caere
die gefangenen Phokaeer, in Tarquinii die gefangenen Römer.
Statt der stillen in den Räumen der Tiefe friedlich schaltenden
Welt der abgeschiedenen ,guten Geister', wie die Latiner sie
sich dachten, erscheint hier eine wahre Hölle, in die die
armen Seelen zur Peinigung durch Schlägel und Schlangen ab-
geholt werden von dem Todtenführer, einer wilden halbthieri-
schen Greisengestalt mit Flügeln und einem grossen Hammer;
einer Gestalt, die man später in Rom bei den Kampfspielen
verwandte um den Mann zu costumiren, der die Leichen der
Erschlagenen vom Kampfplatz wegschaffte. So fest ist mit
diesem Zustand der Schatten die Pein verbunden, dass es
sogar eine Erlösung daraus giebt, die nach gewissen geheim-
nissvollen Opfern die arme Seele versetzt unter die oberen
Götter. Es ist merkwürdig, dass um ihre Unterwelt zu be-
völkern, die Etrusker früh von den Griechen deren finsterste
Vorstellungen entlehnten, wie denn die acheruntische Lehre
und der Charun eine grosse Rolle in der etruskischen Weis-
heit spielen. -- Aber vor allen Dingen beschäftigt den Etru-
sker die Deutung der Zeichen und Wunder. Die Römer ver-
nahmen wohl auch in der Natur die Stimme der Götter; allein
ihr Vogelschauer verstand nur die einfachen Zeichen und er-
kannte nur im Allgemeinen, ob die Handlung Glück oder
Unglück bringen werde. Störungen im Laufe der Natur gal-
ten ihm als unglückbringend und hemmten die Handlung, so
Blitz und Donner die Volksversammlung, und man suchte
sie zu beseitigen, wie zum Beispiel die Missgeburt schleunigst
getödtet ward. Aber jenseit der Tiber begnügte man sich
damit nicht. Der tiefsinnige Etrusker las aus den Blitzen und
aus den Eingeweiden der Opferthiere dem gläubigen Mann
seine Zukunft bis ins Einzelne heraus und je seltsamer
die Göttersprache, je auffallender das Zeichen und Wunder,
desto sicherer gab er an, was es verkünde und wie man das
Unheil etwa abwenden könne. So entstand die Blitzlehre, die
Haruspicin, die Wunderdeutung, alle ausgesponnen mit der
ganzen Haarspalterei des im Absurden lustwandelnden Ver-
standes, namentlich die Blitzwissenschaft. Ein Zwerg von
Kindergestalt mit grauen Haaren, der von einem Ackersmann
bei Tarquinii war ausgepflügt worden, Tages genannt -- man
sollte meinen, er sei eigens erfunden um das zugleich kindische
und altersschwache Treiben zu persiffliren -- also Tages hatte
sie zuerst den Etruskern verrathen und war dann sogleich ge-

ERSTES BUCH. KAPITEL XII.
der Gefangenen einschlieſst — so schlachtete man in Caere
die gefangenen Phokaeer, in Tarquinii die gefangenen Römer.
Statt der stillen in den Räumen der Tiefe friedlich schaltenden
Welt der abgeschiedenen ‚guten Geister‘, wie die Latiner sie
sich dachten, erscheint hier eine wahre Hölle, in die die
armen Seelen zur Peinigung durch Schlägel und Schlangen ab-
geholt werden von dem Todtenführer, einer wilden halbthieri-
schen Greisengestalt mit Flügeln und einem groſsen Hammer;
einer Gestalt, die man später in Rom bei den Kampfspielen
verwandte um den Mann zu costumiren, der die Leichen der
Erschlagenen vom Kampfplatz wegschaffte. So fest ist mit
diesem Zustand der Schatten die Pein verbunden, daſs es
sogar eine Erlösung daraus giebt, die nach gewissen geheim-
niſsvollen Opfern die arme Seele versetzt unter die oberen
Götter. Es ist merkwürdig, daſs um ihre Unterwelt zu be-
völkern, die Etrusker früh von den Griechen deren finsterste
Vorstellungen entlehnten, wie denn die acheruntische Lehre
und der Charun eine groſse Rolle in der etruskischen Weis-
heit spielen. — Aber vor allen Dingen beschäftigt den Etru-
sker die Deutung der Zeichen und Wunder. Die Römer ver-
nahmen wohl auch in der Natur die Stimme der Götter; allein
ihr Vogelschauer verstand nur die einfachen Zeichen und er-
kannte nur im Allgemeinen, ob die Handlung Glück oder
Unglück bringen werde. Störungen im Laufe der Natur gal-
ten ihm als unglückbringend und hemmten die Handlung, so
Blitz und Donner die Volksversammlung, und man suchte
sie zu beseitigen, wie zum Beispiel die Miſsgeburt schleunigst
getödtet ward. Aber jenseit der Tiber begnügte man sich
damit nicht. Der tiefsinnige Etrusker las aus den Blitzen und
aus den Eingeweiden der Opferthiere dem gläubigen Mann
seine Zukunft bis ins Einzelne heraus und je seltsamer
die Göttersprache, je auffallender das Zeichen und Wunder,
desto sicherer gab er an, was es verkünde und wie man das
Unheil etwa abwenden könne. So entstand die Blitzlehre, die
Haruspicin, die Wunderdeutung, alle ausgesponnen mit der
ganzen Haarspalterei des im Absurden lustwandelnden Ver-
standes, namentlich die Blitzwissenschaft. Ein Zwerg von
Kindergestalt mit grauen Haaren, der von einem Ackersmann
bei Tarquinii war ausgepflügt worden, Tages genannt — man
sollte meinen, er sei eigens erfunden um das zugleich kindische
und altersschwache Treiben zu persiffliren — also Tages hatte
sie zuerst den Etruskern verrathen und war dann sogleich ge-

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[120/0134] ERSTES BUCH. KAPITEL XII. der Gefangenen einschlieſst — so schlachtete man in Caere die gefangenen Phokaeer, in Tarquinii die gefangenen Römer. Statt der stillen in den Räumen der Tiefe friedlich schaltenden Welt der abgeschiedenen ‚guten Geister‘, wie die Latiner sie sich dachten, erscheint hier eine wahre Hölle, in die die armen Seelen zur Peinigung durch Schlägel und Schlangen ab- geholt werden von dem Todtenführer, einer wilden halbthieri- schen Greisengestalt mit Flügeln und einem groſsen Hammer; einer Gestalt, die man später in Rom bei den Kampfspielen verwandte um den Mann zu costumiren, der die Leichen der Erschlagenen vom Kampfplatz wegschaffte. So fest ist mit diesem Zustand der Schatten die Pein verbunden, daſs es sogar eine Erlösung daraus giebt, die nach gewissen geheim- niſsvollen Opfern die arme Seele versetzt unter die oberen Götter. Es ist merkwürdig, daſs um ihre Unterwelt zu be- völkern, die Etrusker früh von den Griechen deren finsterste Vorstellungen entlehnten, wie denn die acheruntische Lehre und der Charun eine groſse Rolle in der etruskischen Weis- heit spielen. — Aber vor allen Dingen beschäftigt den Etru- sker die Deutung der Zeichen und Wunder. Die Römer ver- nahmen wohl auch in der Natur die Stimme der Götter; allein ihr Vogelschauer verstand nur die einfachen Zeichen und er- kannte nur im Allgemeinen, ob die Handlung Glück oder Unglück bringen werde. Störungen im Laufe der Natur gal- ten ihm als unglückbringend und hemmten die Handlung, so Blitz und Donner die Volksversammlung, und man suchte sie zu beseitigen, wie zum Beispiel die Miſsgeburt schleunigst getödtet ward. Aber jenseit der Tiber begnügte man sich damit nicht. Der tiefsinnige Etrusker las aus den Blitzen und aus den Eingeweiden der Opferthiere dem gläubigen Mann seine Zukunft bis ins Einzelne heraus und je seltsamer die Göttersprache, je auffallender das Zeichen und Wunder, desto sicherer gab er an, was es verkünde und wie man das Unheil etwa abwenden könne. So entstand die Blitzlehre, die Haruspicin, die Wunderdeutung, alle ausgesponnen mit der ganzen Haarspalterei des im Absurden lustwandelnden Ver- standes, namentlich die Blitzwissenschaft. Ein Zwerg von Kindergestalt mit grauen Haaren, der von einem Ackersmann bei Tarquinii war ausgepflügt worden, Tages genannt — man sollte meinen, er sei eigens erfunden um das zugleich kindische und altersschwache Treiben zu persiffliren — also Tages hatte sie zuerst den Etruskern verrathen und war dann sogleich ge-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/134>, abgerufen am 28.04.2024.