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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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oder Metapontion, Sybaris mit seinen Pflanzstädten Poseidonia
und Laos, Kroton, Kaulonia, Temesa, Terina, Pyxus oder
Buxentum bildeten. Diese Colonisten gehörten, im Grossen
und Ganzen genommen, einem griechischen Stamm an, der
an seinem eigenthümlichen von dem dorischen, dem er sonst
am nächsten verwandt ist, zum Beispiel durch den Mangel
des h sich unterscheidenden Dialekt so wie nicht minder an-
statt des sonst allgemein in Gebrauch gekommenen jüngeren
Alphabets an der altnationalen hellenischen Schreibweise be-
ständig festhielt und seine besondere Nationalität den Barbaren
wie den andern Griechen gegenüber in einer festen bündi-
schen Verfassung bewahrte. Auch auf diese italischen Achaeer
lässt sich anwenden, was Polybios von der achaeischen Sym-
machie im Peloponnes sagt: ,nicht allein in eidgenössischer
und freundschaftlicher Gemeinschaft leben sie, sondern sie
bedienen sich auch gleicher Gesetze, gleicher Gewichte, Masse
und Münzen so wie derselben Vorsteher, Rathmänner und
Richter'. -- Dieser achaeische Städtebund war eine eigent-
liche Colonisation. Die Städte waren ohne Häfen -- nur
Kroton hatte eine leidliche Rhede -- und ohne Eigenhandel;
der Sybarite rühmte sich zu ergrauen zwischen den Brücken
seiner Lagunenstadt und Kauf und Verkauf besorgten ihm
Milesier und Etrusker. Dagegen besassen die Griechen hier
nicht bloss die Küstensäume, sondern herrschten von Meer
zu Meer in dem Wein- und Rinderland (Oinotria, Italia)
oder der ,grossen Hellas'; die eingeborne ackerbauende Be-
völkerung musste in Clientel oder gar in Leibeigenschaft ihnen
wirthschaften und zinsen. Sybaris -- seiner Zeit die grösste
Stadt Italiens -- gebot über vier barbarische Stämme und
fünf und zwanzig Ortschaften und konnte am andern Meer
Laos und Poseidonia gründen; die überschwänglich fruchtbaren
Niederungen des Krathis und des Bradanos warfen den städti-
schen Herren überreichen Ertrag ab -- hier hat vielleicht
zuerst eine regelmässige Getreideausfuhr stattgefunden. Von der
hohen Blüthe, zu welcher diese Staaten in unglaublich kurzer
Zeit gediehen, zeugen am lebendigsten die einzigen auf uns
gekommenen Kunstwerke dieser italischen Achaeer, ihre Mün-
zen von strenger alterthümlich schöner Arbeit; überhaupt die
frühesten Denkmäler italischer Kunst und Schrift, von denen
die ältesten nicht nach Ol. 50 oder 174 der Stadt entstanden
sein können. Diese Münzen zeigen, dass die Achaeer des
Westens nicht bloss theilnahmen an der eben um diese Zeit im

ERSTES BUCH. KAPITEL X.
oder Metapontion, Sybaris mit seinen Pflanzstädten Poseidonia
und Laos, Kroton, Kaulonia, Temesa, Terina, Pyxus oder
Buxentum bildeten. Diese Colonisten gehörten, im Groſsen
und Ganzen genommen, einem griechischen Stamm an, der
an seinem eigenthümlichen von dem dorischen, dem er sonst
am nächsten verwandt ist, zum Beispiel durch den Mangel
des h sich unterscheidenden Dialekt so wie nicht minder an-
statt des sonst allgemein in Gebrauch gekommenen jüngeren
Alphabets an der altnationalen hellenischen Schreibweise be-
ständig festhielt und seine besondere Nationalität den Barbaren
wie den andern Griechen gegenüber in einer festen bündi-
schen Verfassung bewahrte. Auch auf diese italischen Achaeer
läſst sich anwenden, was Polybios von der achaeischen Sym-
machie im Peloponnes sagt: ‚nicht allein in eidgenössischer
und freundschaftlicher Gemeinschaft leben sie, sondern sie
bedienen sich auch gleicher Gesetze, gleicher Gewichte, Maſse
und Münzen so wie derselben Vorsteher, Rathmänner und
Richter‘. — Dieser achaeische Städtebund war eine eigent-
liche Colonisation. Die Städte waren ohne Häfen — nur
Kroton hatte eine leidliche Rhede — und ohne Eigenhandel;
der Sybarite rühmte sich zu ergrauen zwischen den Brücken
seiner Lagunenstadt und Kauf und Verkauf besorgten ihm
Milesier und Etrusker. Dagegen besaſsen die Griechen hier
nicht bloſs die Küstensäume, sondern herrschten von Meer
zu Meer in dem Wein- und Rinderland (Οἰνωτϱία, Ἰταλία)
oder der ‚groſsen Hellas‘; die eingeborne ackerbauende Be-
völkerung muſste in Clientel oder gar in Leibeigenschaft ihnen
wirthschaften und zinsen. Sybaris — seiner Zeit die gröſste
Stadt Italiens — gebot über vier barbarische Stämme und
fünf und zwanzig Ortschaften und konnte am andern Meer
Laos und Poseidonia gründen; die überschwänglich fruchtbaren
Niederungen des Krathis und des Bradanos warfen den städti-
schen Herren überreichen Ertrag ab — hier hat vielleicht
zuerst eine regelmäſsige Getreideausfuhr stattgefunden. Von der
hohen Blüthe, zu welcher diese Staaten in unglaublich kurzer
Zeit gediehen, zeugen am lebendigsten die einzigen auf uns
gekommenen Kunstwerke dieser italischen Achaeer, ihre Mün-
zen von strenger alterthümlich schöner Arbeit; überhaupt die
frühesten Denkmäler italischer Kunst und Schrift, von denen
die ältesten nicht nach Ol. 50 oder 174 der Stadt entstanden
sein können. Diese Münzen zeigen, daſs die Achaeer des
Westens nicht bloſs theilnahmen an der eben um diese Zeit im

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[90/0104] ERSTES BUCH. KAPITEL X. oder Metapontion, Sybaris mit seinen Pflanzstädten Poseidonia und Laos, Kroton, Kaulonia, Temesa, Terina, Pyxus oder Buxentum bildeten. Diese Colonisten gehörten, im Groſsen und Ganzen genommen, einem griechischen Stamm an, der an seinem eigenthümlichen von dem dorischen, dem er sonst am nächsten verwandt ist, zum Beispiel durch den Mangel des h sich unterscheidenden Dialekt so wie nicht minder an- statt des sonst allgemein in Gebrauch gekommenen jüngeren Alphabets an der altnationalen hellenischen Schreibweise be- ständig festhielt und seine besondere Nationalität den Barbaren wie den andern Griechen gegenüber in einer festen bündi- schen Verfassung bewahrte. Auch auf diese italischen Achaeer läſst sich anwenden, was Polybios von der achaeischen Sym- machie im Peloponnes sagt: ‚nicht allein in eidgenössischer und freundschaftlicher Gemeinschaft leben sie, sondern sie bedienen sich auch gleicher Gesetze, gleicher Gewichte, Maſse und Münzen so wie derselben Vorsteher, Rathmänner und Richter‘. — Dieser achaeische Städtebund war eine eigent- liche Colonisation. Die Städte waren ohne Häfen — nur Kroton hatte eine leidliche Rhede — und ohne Eigenhandel; der Sybarite rühmte sich zu ergrauen zwischen den Brücken seiner Lagunenstadt und Kauf und Verkauf besorgten ihm Milesier und Etrusker. Dagegen besaſsen die Griechen hier nicht bloſs die Küstensäume, sondern herrschten von Meer zu Meer in dem Wein- und Rinderland (Οἰνωτϱία, Ἰταλία) oder der ‚groſsen Hellas‘; die eingeborne ackerbauende Be- völkerung muſste in Clientel oder gar in Leibeigenschaft ihnen wirthschaften und zinsen. Sybaris — seiner Zeit die gröſste Stadt Italiens — gebot über vier barbarische Stämme und fünf und zwanzig Ortschaften und konnte am andern Meer Laos und Poseidonia gründen; die überschwänglich fruchtbaren Niederungen des Krathis und des Bradanos warfen den städti- schen Herren überreichen Ertrag ab — hier hat vielleicht zuerst eine regelmäſsige Getreideausfuhr stattgefunden. Von der hohen Blüthe, zu welcher diese Staaten in unglaublich kurzer Zeit gediehen, zeugen am lebendigsten die einzigen auf uns gekommenen Kunstwerke dieser italischen Achaeer, ihre Mün- zen von strenger alterthümlich schöner Arbeit; überhaupt die frühesten Denkmäler italischer Kunst und Schrift, von denen die ältesten nicht nach Ol. 50 oder 174 der Stadt entstanden sein können. Diese Münzen zeigen, daſs die Achaeer des Westens nicht bloſs theilnahmen an der eben um diese Zeit im

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/104>, abgerufen am 28.04.2024.