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Mommsen, Theodor: Auch ein Wort über unser Judenthum. Berlin, 1880.

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eigenen Herzblut, dieses im Wollüstigen und Phantastischen gewal-
tige, der Charaktertragik Shakespeares schlechthin baare Gestaltungs-
talent anders begreifen, als wenn man sich seines Ursprungs erinnert?
Gewiß, die Unterschiede sind da; und sie sind so beschaffen, daß der
Judencultus einer gewissen Epoche oder -- in welcher Form er
heutzutage aufzutreten pflegt -- die Judenfurcht wohl zu den ein-
fältigsten Verwirrungen gehören, deren zu bedienen unsere Nation
sich beliebt hat und noch beliebt. Aber diesen Schranken und Män-
geln stehen wieder Fähigkeiten und Vorzüge gegenüber, deren Besitz
nicht zum letzten Theil diese Agitation mit veranlaßt hat. Daß
der reinste und idealste aller Philosophen als Jude gelebt und ge-
litten hat, ist auch kein Zufall; und an der jüdischen Wohlthätigkeit,
auch gegen Christen, könnten diese sich ein Beispiel nehmen. Es
ist eben wie überall. Licht und Schatten sind gemischt; ob mehr
oder minder ungleich, wird niemand zu entscheiden wagen, der nicht
Hofprediger ist. Ohne Zweifel sind die Juden, wie einst im rö-
mischen Staat ein Element der nationalen Decomposition1), so in
Deutschland ein Element der Decomposition der Stämme, und darauf
beruht es auch, daß in der deutschen Hauptstadt, wo diese Stämme
factisch sich stärker mischen als irgendwo sonst, die Juden eine Stellung
einnehmen, die man anderswo ihnen beneidet. Decompositionsprozesse
sind oftmals nothwendig, aber nie erfreulich und haben unvermeidlich
eine lange Reihe von Uebelständen im Gefolge; der unsrige weniger
als der römische, weil die deutsche Nation keineswegs ein so blasser
Schemen ist wie die caesarische Reichsangehörigkeit; aber so sehr bin

1) Jch habe in diese ernste Frage nicht die andere recht gleichgültige hinein-
ziehen wollen, ob ein deutscher Schriftsteller sich einmal mehr oder weniger
widersprochen hat, und habe darum nicht erwiedert auf die litterarischen Streifzüge
gewisser Parlamentsredner, deren Vorträge besser Leitartikel der entsprechenden
Presse geblieben wären. Jndeß da ich einmal hier das Wort nehme, glaube ich
hinzufügen zu sollen, daß meine Meinung über die Judenfrage vor dreißig
Jahren ebenso dieselbe war, wie meine Stimmung gegen diesen Theil meiner
Mitbürger. Wer sich von dem letzteren überzeugen will, worauf mehr ankommt,
der lese zum Beispiel was ich über das Verhalten der Juden bei Caesars Tod
gesagt habe. Wer mein Buch kennt, wird es bestätigen, daß dasselbe den An-
spruch erhebt den Judenschmeichlern ebenso zu mißfallen wie den Judenhassern.

eigenen Herzblut, dieſes im Wollüſtigen und Phantaſtiſchen gewal-
tige, der Charaktertragik Shakeſpeares ſchlechthin baare Geſtaltungs-
talent anders begreifen, als wenn man ſich ſeines Urſprungs erinnert?
Gewiß, die Unterſchiede ſind da; und ſie ſind ſo beſchaffen, daß der
Judencultus einer gewiſſen Epoche oder — in welcher Form er
heutzutage aufzutreten pflegt — die Judenfurcht wohl zu den ein-
fältigſten Verwirrungen gehören, deren zu bedienen unſere Nation
ſich beliebt hat und noch beliebt. Aber dieſen Schranken und Män-
geln ſtehen wieder Fähigkeiten und Vorzüge gegenüber, deren Beſitz
nicht zum letzten Theil dieſe Agitation mit veranlaßt hat. Daß
der reinſte und idealſte aller Philoſophen als Jude gelebt und ge-
litten hat, iſt auch kein Zufall; und an der jüdiſchen Wohlthätigkeit,
auch gegen Chriſten, könnten dieſe ſich ein Beiſpiel nehmen. Es
iſt eben wie überall. Licht und Schatten ſind gemiſcht; ob mehr
oder minder ungleich, wird niemand zu entſcheiden wagen, der nicht
Hofprediger iſt. Ohne Zweifel ſind die Juden, wie einſt im rö-
miſchen Staat ein Element der nationalen Decompoſition1), ſo in
Deutſchland ein Element der Decompoſition der Stämme, und darauf
beruht es auch, daß in der deutſchen Hauptſtadt, wo dieſe Stämme
factiſch ſich ſtärker miſchen als irgendwo ſonſt, die Juden eine Stellung
einnehmen, die man anderswo ihnen beneidet. Decompoſitionsprozeſſe
ſind oftmals nothwendig, aber nie erfreulich und haben unvermeidlich
eine lange Reihe von Uebelſtänden im Gefolge; der unſrige weniger
als der römiſche, weil die deutſche Nation keineswegs ein ſo blaſſer
Schemen iſt wie die caeſariſche Reichsangehörigkeit; aber ſo ſehr bin

1) Jch habe in dieſe ernſte Frage nicht die andere recht gleichgültige hinein-
ziehen wollen, ob ein deutſcher Schriftſteller ſich einmal mehr oder weniger
widerſprochen hat, und habe darum nicht erwiedert auf die litterariſchen Streifzüge
gewiſſer Parlamentsredner, deren Vorträge beſſer Leitartikel der entſprechenden
Preſſe geblieben wären. Jndeß da ich einmal hier das Wort nehme, glaube ich
hinzufügen zu ſollen, daß meine Meinung über die Judenfrage vor dreißig
Jahren ebenſo dieſelbe war, wie meine Stimmung gegen dieſen Theil meiner
Mitbürger. Wer ſich von dem letzteren überzeugen will, worauf mehr ankommt,
der leſe zum Beiſpiel was ich über das Verhalten der Juden bei Caeſars Tod
geſagt habe. Wer mein Buch kennt, wird es beſtätigen, daß dasſelbe den An-
ſpruch erhebt den Judenſchmeichlern ebenſo zu mißfallen wie den Judenhaſſern.
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[9/0009] eigenen Herzblut, dieſes im Wollüſtigen und Phantaſtiſchen gewal- tige, der Charaktertragik Shakeſpeares ſchlechthin baare Geſtaltungs- talent anders begreifen, als wenn man ſich ſeines Urſprungs erinnert? Gewiß, die Unterſchiede ſind da; und ſie ſind ſo beſchaffen, daß der Judencultus einer gewiſſen Epoche oder — in welcher Form er heutzutage aufzutreten pflegt — die Judenfurcht wohl zu den ein- fältigſten Verwirrungen gehören, deren zu bedienen unſere Nation ſich beliebt hat und noch beliebt. Aber dieſen Schranken und Män- geln ſtehen wieder Fähigkeiten und Vorzüge gegenüber, deren Beſitz nicht zum letzten Theil dieſe Agitation mit veranlaßt hat. Daß der reinſte und idealſte aller Philoſophen als Jude gelebt und ge- litten hat, iſt auch kein Zufall; und an der jüdiſchen Wohlthätigkeit, auch gegen Chriſten, könnten dieſe ſich ein Beiſpiel nehmen. Es iſt eben wie überall. Licht und Schatten ſind gemiſcht; ob mehr oder minder ungleich, wird niemand zu entſcheiden wagen, der nicht Hofprediger iſt. Ohne Zweifel ſind die Juden, wie einſt im rö- miſchen Staat ein Element der nationalen Decompoſition 1), ſo in Deutſchland ein Element der Decompoſition der Stämme, und darauf beruht es auch, daß in der deutſchen Hauptſtadt, wo dieſe Stämme factiſch ſich ſtärker miſchen als irgendwo ſonſt, die Juden eine Stellung einnehmen, die man anderswo ihnen beneidet. Decompoſitionsprozeſſe ſind oftmals nothwendig, aber nie erfreulich und haben unvermeidlich eine lange Reihe von Uebelſtänden im Gefolge; der unſrige weniger als der römiſche, weil die deutſche Nation keineswegs ein ſo blaſſer Schemen iſt wie die caeſariſche Reichsangehörigkeit; aber ſo ſehr bin 1) Jch habe in dieſe ernſte Frage nicht die andere recht gleichgültige hinein- ziehen wollen, ob ein deutſcher Schriftſteller ſich einmal mehr oder weniger widerſprochen hat, und habe darum nicht erwiedert auf die litterariſchen Streifzüge gewiſſer Parlamentsredner, deren Vorträge beſſer Leitartikel der entſprechenden Preſſe geblieben wären. Jndeß da ich einmal hier das Wort nehme, glaube ich hinzufügen zu ſollen, daß meine Meinung über die Judenfrage vor dreißig Jahren ebenſo dieſelbe war, wie meine Stimmung gegen dieſen Theil meiner Mitbürger. Wer ſich von dem letzteren überzeugen will, worauf mehr ankommt, der leſe zum Beiſpiel was ich über das Verhalten der Juden bei Caeſars Tod geſagt habe. Wer mein Buch kennt, wird es beſtätigen, daß dasſelbe den An- ſpruch erhebt den Judenſchmeichlern ebenſo zu mißfallen wie den Judenhaſſern.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Auch ein Wort über unser Judenthum. Berlin, 1880, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_judenthum_1880/9>, abgerufen am 29.03.2024.