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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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thätige Bild verhieß der Stadt Edessa, daß sie nie von
einem Feind erobert werden sollte, und bewährte sich gegen
zwei Belagerungen der Perser unter Nuschirwan; aber die
Araber eroberten Orfa, und das Heiligthum hatte dreihun-
dert Jahre in Gefangenschaft der Ungläubigen geschmach-
tet, als die Kaiser von Konstantinopel es für 12,000 Pfd.
Silber und zweihundert muselmännische Gefangene kauften.
Das Bild von Edessa rivalisirte mit der berühmten Vero-
nika oder dem Schweißtuche, und soll sich gegenwärtig in
Genua befinden.

Orfa ist noch immer eine große und schöne Stadt,
ganz aus Steinen erbaut, mit stattlichen Mauern und einem
Castell auf einem dominirenden Felsen. Auf dem Castell
ragen zwei hohe Säulen, die jedoch nicht Monolithen sind,
mit reichen Capitälern empor, welche mit den römischen
Adlern geschmückt sind. Vom höchsten Alterthume sind die
Mauern eines Gebäudes und eines Thurmes (jetzt eine
Moschee) im Jnnern der Stadt, aus großen schön behaue-
nen Quadern ohne Mörtel auf einander gefügt. Am Fuße
des Castells sammelt sich das Wasser mehrerer Quellen in
zwei Bassins, die von hohen Weiden, Platanen und Cy-
pressen umringt sind und neben denen sich eine Medresseh
mit schönen Kuppeln und Minarehs erhebt. Jn der kla-
ren Flut schwimmen eine zahllose Menge von Karpfen, die
Niemand anrührt, weil sie heilig sind, und Jeder, der da-
von ißt, blind wird.

Orfa liegt an kahle Felsen gelehnt, aber von hier ab-
wärts gegen Süden fängt die Tschöll oder Wüste an, eine
unabsehbare Fläche, in diesem Augenblick mit Grün beklei-
det, bald aber verdorrt. Orfa bildet mit seinen Obst- und
Weidenbäumen eine Oase zwischen der Sand- und der Stein-
wüste. Scherif, Pascha von zwei Roßschweifen, empfing
mich sehr freundlich; ich mußte bei ihm wohnen, und obwohl
es Freitag war, veranstaltete er ein Exerzieren im Feuer.

Von Orfa bis hierher nach Diarbekir, denn ich habe
meinen Brief hier fortgesetzt, ist die traurigste Einöde, die

thaͤtige Bild verhieß der Stadt Edeſſa, daß ſie nie von
einem Feind erobert werden ſollte, und bewaͤhrte ſich gegen
zwei Belagerungen der Perſer unter Nuſchirwan; aber die
Araber eroberten Orfa, und das Heiligthum hatte dreihun-
dert Jahre in Gefangenſchaft der Unglaͤubigen geſchmach-
tet, als die Kaiſer von Konſtantinopel es fuͤr 12,000 Pfd.
Silber und zweihundert muſelmaͤnniſche Gefangene kauften.
Das Bild von Edeſſa rivaliſirte mit der beruͤhmten Vero-
nika oder dem Schweißtuche, und ſoll ſich gegenwaͤrtig in
Genua befinden.

Orfa iſt noch immer eine große und ſchoͤne Stadt,
ganz aus Steinen erbaut, mit ſtattlichen Mauern und einem
Caſtell auf einem dominirenden Felſen. Auf dem Caſtell
ragen zwei hohe Saͤulen, die jedoch nicht Monolithen ſind,
mit reichen Capitaͤlern empor, welche mit den roͤmiſchen
Adlern geſchmuͤckt ſind. Vom hoͤchſten Alterthume ſind die
Mauern eines Gebaͤudes und eines Thurmes (jetzt eine
Moſchee) im Jnnern der Stadt, aus großen ſchoͤn behaue-
nen Quadern ohne Moͤrtel auf einander gefuͤgt. Am Fuße
des Caſtells ſammelt ſich das Waſſer mehrerer Quellen in
zwei Baſſins, die von hohen Weiden, Platanen und Cy-
preſſen umringt ſind und neben denen ſich eine Medreſſeh
mit ſchoͤnen Kuppeln und Minarehs erhebt. Jn der kla-
ren Flut ſchwimmen eine zahlloſe Menge von Karpfen, die
Niemand anruͤhrt, weil ſie heilig ſind, und Jeder, der da-
von ißt, blind wird.

Orfa liegt an kahle Felſen gelehnt, aber von hier ab-
waͤrts gegen Suͤden faͤngt die Tſchoͤll oder Wuͤſte an, eine
unabſehbare Flaͤche, in dieſem Augenblick mit Gruͤn beklei-
det, bald aber verdorrt. Orfa bildet mit ſeinen Obſt- und
Weidenbaͤumen eine Oaſe zwiſchen der Sand- und der Stein-
wuͤſte. Scherif, Paſcha von zwei Roßſchweifen, empfing
mich ſehr freundlich; ich mußte bei ihm wohnen, und obwohl
es Freitag war, veranſtaltete er ein Exerzieren im Feuer.

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meinen Brief hier fortgeſetzt, iſt die traurigſte Einoͤde, die

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[230/0240] thaͤtige Bild verhieß der Stadt Edeſſa, daß ſie nie von einem Feind erobert werden ſollte, und bewaͤhrte ſich gegen zwei Belagerungen der Perſer unter Nuſchirwan; aber die Araber eroberten Orfa, und das Heiligthum hatte dreihun- dert Jahre in Gefangenſchaft der Unglaͤubigen geſchmach- tet, als die Kaiſer von Konſtantinopel es fuͤr 12,000 Pfd. Silber und zweihundert muſelmaͤnniſche Gefangene kauften. Das Bild von Edeſſa rivaliſirte mit der beruͤhmten Vero- nika oder dem Schweißtuche, und ſoll ſich gegenwaͤrtig in Genua befinden. Orfa iſt noch immer eine große und ſchoͤne Stadt, ganz aus Steinen erbaut, mit ſtattlichen Mauern und einem Caſtell auf einem dominirenden Felſen. Auf dem Caſtell ragen zwei hohe Saͤulen, die jedoch nicht Monolithen ſind, mit reichen Capitaͤlern empor, welche mit den roͤmiſchen Adlern geſchmuͤckt ſind. Vom hoͤchſten Alterthume ſind die Mauern eines Gebaͤudes und eines Thurmes (jetzt eine Moſchee) im Jnnern der Stadt, aus großen ſchoͤn behaue- nen Quadern ohne Moͤrtel auf einander gefuͤgt. Am Fuße des Caſtells ſammelt ſich das Waſſer mehrerer Quellen in zwei Baſſins, die von hohen Weiden, Platanen und Cy- preſſen umringt ſind und neben denen ſich eine Medreſſeh mit ſchoͤnen Kuppeln und Minarehs erhebt. Jn der kla- ren Flut ſchwimmen eine zahlloſe Menge von Karpfen, die Niemand anruͤhrt, weil ſie heilig ſind, und Jeder, der da- von ißt, blind wird. Orfa liegt an kahle Felſen gelehnt, aber von hier ab- waͤrts gegen Suͤden faͤngt die Tſchoͤll oder Wuͤſte an, eine unabſehbare Flaͤche, in dieſem Augenblick mit Gruͤn beklei- det, bald aber verdorrt. Orfa bildet mit ſeinen Obſt- und Weidenbaͤumen eine Oaſe zwiſchen der Sand- und der Stein- wuͤſte. Scherif, Paſcha von zwei Roßſchweifen, empfing mich ſehr freundlich; ich mußte bei ihm wohnen, und obwohl es Freitag war, veranſtaltete er ein Exerzieren im Feuer. Von Orfa bis hierher nach Diarbekir, denn ich habe meinen Brief hier fortgeſetzt, iſt die traurigſte Einoͤde, die

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/240>, abgerufen am 25.11.2024.