Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.Menschheitszwecken in ihrer Benützung als Staatszweck entgegensteht. Es muß doch auch ein organisches Zusammenleben für diejenigen Volkszustände bestehen, welchen diese höchste Staatsaufgabe noch nicht erreichbar ist. Die Begriffsbestimmung ist also zu eng. 6) Es wird der Wahrheit der christlichen Religion und der Verpflichtung eines Bekenntnisses zu derselben kein Eintrag gethan, wenn bei der Er- forschung des Staatszweckes auch andere thatsächlich vorhandene Lebensauf- fassungen berücksichtigt werden. Unmöglich kann nämlich davon ausgegangen werden, daß alle Völker, weil sie sich zum Christenthume nicht bekennen und zum Theil schon der Zeit nach sich nicht dazu bekennen konnten, gar keinen Staat oder nur einen zweck- und sinnlosen gehabt haben. Wenn also auch wirklich die christliche Weltanschauung die letzte und höchste Ge- sittigungsstufe ist; und wenn auch ferner, (was übrigens hier weder unter- sucht noch zugegeben wird,) gerade die Stahl'sche Auffassung des Christen- thums die Wahrheit ausschließend erfaßt: so folgt daraus nur, daß für Völker dieses Glaubens ein entsprechender Staatszweck geboten ist; keines- wegs aber, daß Völker von anderer Gesittigung nicht berechtigt sind, auch einen Staat zu haben und diesen nach ihren Bedürfnissen zu bestimmen. Erst wenn sie einmal Christen sind, tritt die nun passende Staatsaufgabe auch für sie ein. Die wissenschaftliche Feststellung des Staatsbegriffes muß aber alle an sich logisch möglichen Arten des Staates umfassen. Mit einem Worte, eine christliche Theokratie, werde sie nun folgerichtig oder folgewidrig entwickelt, ist nicht die einzig denkbare noch die einzig wirkliche Staats- gattung; ihr specifischer Begriff ist daher auch nicht maßgebend für andere. § 13. 3. Von der Entstehung des Staates. Die Geschichte zeigt, daß die vielen in die Erscheinung Begreiflich entsteht die Frage: ob diese Verschiedenheit der Menſchheitszwecken in ihrer Benützung als Staatszweck entgegenſteht. Es muß doch auch ein organiſches Zuſammenleben für diejenigen Volkszuſtände beſtehen, welchen dieſe höchſte Staatsaufgabe noch nicht erreichbar iſt. Die Begriffsbeſtimmung iſt alſo zu eng. 6) Es wird der Wahrheit der chriſtlichen Religion und der Verpflichtung eines Bekenntniſſes zu derſelben kein Eintrag gethan, wenn bei der Er- forſchung des Staatszweckes auch andere thatſächlich vorhandene Lebensauf- faſſungen berückſichtigt werden. Unmöglich kann nämlich davon ausgegangen werden, daß alle Völker, weil ſie ſich zum Chriſtenthume nicht bekennen und zum Theil ſchon der Zeit nach ſich nicht dazu bekennen konnten, gar keinen Staat oder nur einen zweck- und ſinnloſen gehabt haben. Wenn alſo auch wirklich die chriſtliche Weltanſchauung die letzte und höchſte Ge- ſittigungsſtufe iſt; und wenn auch ferner, (was übrigens hier weder unter- ſucht noch zugegeben wird,) gerade die Stahl’ſche Auffaſſung des Chriſten- thums die Wahrheit ausſchließend erfaßt: ſo folgt daraus nur, daß für Völker dieſes Glaubens ein entſprechender Staatszweck geboten iſt; keines- wegs aber, daß Völker von anderer Geſittigung nicht berechtigt ſind, auch einen Staat zu haben und dieſen nach ihren Bedürfniſſen zu beſtimmen. Erſt wenn ſie einmal Chriſten ſind, tritt die nun paſſende Staatsaufgabe auch für ſie ein. Die wiſſenſchaftliche Feſtſtellung des Staatsbegriffes muß aber alle an ſich logiſch möglichen Arten des Staates umfaſſen. Mit einem Worte, eine chriſtliche Theokratie, werde ſie nun folgerichtig oder folgewidrig entwickelt, iſt nicht die einzig denkbare noch die einzig wirkliche Staats- gattung; ihr ſpecifiſcher Begriff iſt daher auch nicht maßgebend für andere. § 13. 3. Von der Entſtehung des Staates. Die Geſchichte zeigt, daß die vielen in die Erſcheinung Begreiflich entſteht die Frage: ob dieſe Verſchiedenheit der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <note place="end" n="5)"><pb facs="#f0098" n="84"/> Menſchheitszwecken in ihrer Benützung als Staatszweck entgegenſteht. Es<lb/> muß doch auch ein organiſches Zuſammenleben für diejenigen Volkszuſtände<lb/> beſtehen, welchen dieſe höchſte Staatsaufgabe noch nicht erreichbar iſt. Die<lb/> Begriffsbeſtimmung iſt alſo zu eng.</note><lb/> <note place="end" n="6)">Es wird der Wahrheit der chriſtlichen Religion und der Verpflichtung<lb/> eines Bekenntniſſes zu derſelben kein Eintrag gethan, wenn bei der Er-<lb/> forſchung des Staatszweckes auch andere thatſächlich vorhandene Lebensauf-<lb/> faſſungen berückſichtigt werden. 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⁵⁾ Menſchheitszwecken in ihrer Benützung als Staatszweck entgegenſteht. Es
muß doch auch ein organiſches Zuſammenleben für diejenigen Volkszuſtände
beſtehen, welchen dieſe höchſte Staatsaufgabe noch nicht erreichbar iſt. Die
Begriffsbeſtimmung iſt alſo zu eng.
⁶⁾ Es wird der Wahrheit der chriſtlichen Religion und der Verpflichtung
eines Bekenntniſſes zu derſelben kein Eintrag gethan, wenn bei der Er-
forſchung des Staatszweckes auch andere thatſächlich vorhandene Lebensauf-
faſſungen berückſichtigt werden. Unmöglich kann nämlich davon ausgegangen
werden, daß alle Völker, weil ſie ſich zum Chriſtenthume nicht bekennen
und zum Theil ſchon der Zeit nach ſich nicht dazu bekennen konnten, gar
keinen Staat oder nur einen zweck- und ſinnloſen gehabt haben. Wenn
alſo auch wirklich die chriſtliche Weltanſchauung die letzte und höchſte Ge-
ſittigungsſtufe iſt; und wenn auch ferner, (was übrigens hier weder unter-
ſucht noch zugegeben wird,) gerade die Stahl’ſche Auffaſſung des Chriſten-
thums die Wahrheit ausſchließend erfaßt: ſo folgt daraus nur, daß für
Völker dieſes Glaubens ein entſprechender Staatszweck geboten iſt; keines-
wegs aber, daß Völker von anderer Geſittigung nicht berechtigt ſind, auch
einen Staat zu haben und dieſen nach ihren Bedürfniſſen zu beſtimmen.
Erſt wenn ſie einmal Chriſten ſind, tritt die nun paſſende Staatsaufgabe
auch für ſie ein. Die wiſſenſchaftliche Feſtſtellung des Staatsbegriffes muß
aber alle an ſich logiſch möglichen Arten des Staates umfaſſen. Mit einem
Worte, eine chriſtliche Theokratie, werde ſie nun folgerichtig oder folgewidrig
entwickelt, iſt nicht die einzig denkbare noch die einzig wirkliche Staats-
gattung; ihr ſpecifiſcher Begriff iſt daher auch nicht maßgebend für andere.
§ 13.
3. Von der Entſtehung des Staates.
Die Geſchichte zeigt, daß die vielen in die Erſcheinung
getretenen Staaten auf ſehr verſchiedene Weiſe entſtanden ſind.
Einige haben ſich ſtille und faſt unmerklich entwickelt aus
kleineren Stämmen und Gutsherrſchaften; andere ſind durch
Religionsſtifter geordnet worden; bei Dritten hat eine mächtige
Perſönlichkeit zum Mittelpunkte einer Kryſtalliſation gedient;
ſehr viele ſind durch Eroberungen und ſonſtige offene Gewalt
entſtanden; einzelne unläugbar durch Vertrag.
Begreiflich entſteht die Frage: ob dieſe Verſchiedenheit der
thatſächlichen Entſtehung von Bedeutung ſei für das Leben
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