Stamm und die Nationalität, die Gesellschaft, der Staat und die Staatenverbindung. Jede dieser Hauptabtheilungen aber be- steht wieder aus gesonderten Systemen, welche entstehen, je nachdem man vom Gesichtspunkte des Rechtes, der Sittlich- keit, der Religion, oder der Zweckmäßigkeit ausgeht.
Gewöhnlich sind allerdings nur die Lebenskreise der ein- zelnen Persönlichkeit und der Familie, sowie die des Staates Gegenstand ausführlicher und geordneter wissenschaftlicher Be- handlung. Das Leben des Stammes und der Gesellschaft ist bisher nur sehr bruchstückweise und gelegentlich berücksichtigt, und also nicht zu einer Gesammtheit von Lehren und Kennt- nissen ausgebildet worden; die Beziehungen der Staatenver- bindungen aber sind ungetrennt von der Wissenschaft des ein- zelnen Staates behandelt. Hier ist folglich noch ein weites Feld für nothwendige und nützliche geistige Thätigkeit offen. Wenn nämlich etwa auch die Ausarbeitung der Gesammtwis- senschaft des Stammes weniger dringend und fruchtbringend sein mag, weil das Stammes-Leben am wenigsten zur Er- reichung der menschlichen Lebensaufgaben beiträgt: so ist eine vollständige wissenschaftliche Bearbeitung der Gesellschaft um so größeres Bedürfniß. Auch wäre ohne Zweifel eine voll- ständige Ausscheidung der gesammten internationalen Discipli- nen von den Erörterungen über den einzelnen Staat nicht nur logisch richtig, sondern auch in sachlicher Beziehung fördernd; doch mag zugegeben werden, daß bei einer solchen Trennung Wiederholungen schwer zu vermeiden wären, und ist es wahr, daß in beiden Fällen Staaten Gegenstand der Betrachtung sind und nicht specifisch verschiedene menschliche Verhältnisse.
Ein richtiges System der Staatswissenschaften muß unter allen Umständen sich völlig frei halten von solchen einzelnen Erörterungen und ganzen Disciplinen, deren Gegenstand nicht der Staat ist. Dieselben sind für sie höchstens Vorkenntnisse, und
Stamm und die Nationalität, die Geſellſchaft, der Staat und die Staatenverbindung. Jede dieſer Hauptabtheilungen aber be- ſteht wieder aus geſonderten Syſtemen, welche entſtehen, je nachdem man vom Geſichtspunkte des Rechtes, der Sittlich- keit, der Religion, oder der Zweckmäßigkeit ausgeht.
Gewöhnlich ſind allerdings nur die Lebenskreiſe der ein- zelnen Perſönlichkeit und der Familie, ſowie die des Staates Gegenſtand ausführlicher und geordneter wiſſenſchaftlicher Be- handlung. Das Leben des Stammes und der Geſellſchaft iſt bisher nur ſehr bruchſtückweiſe und gelegentlich berückſichtigt, und alſo nicht zu einer Geſammtheit von Lehren und Kennt- niſſen ausgebildet worden; die Beziehungen der Staatenver- bindungen aber ſind ungetrennt von der Wiſſenſchaft des ein- zelnen Staates behandelt. Hier iſt folglich noch ein weites Feld für nothwendige und nützliche geiſtige Thätigkeit offen. Wenn nämlich etwa auch die Ausarbeitung der Geſammtwiſ- ſenſchaft des Stammes weniger dringend und fruchtbringend ſein mag, weil das Stammes-Leben am wenigſten zur Er- reichung der menſchlichen Lebensaufgaben beiträgt: ſo iſt eine vollſtändige wiſſenſchaftliche Bearbeitung der Geſellſchaft um ſo größeres Bedürfniß. Auch wäre ohne Zweifel eine voll- ſtändige Ausſcheidung der geſammten internationalen Discipli- nen von den Erörterungen über den einzelnen Staat nicht nur logiſch richtig, ſondern auch in ſachlicher Beziehung fördernd; doch mag zugegeben werden, daß bei einer ſolchen Trennung Wiederholungen ſchwer zu vermeiden wären, und iſt es wahr, daß in beiden Fällen Staaten Gegenſtand der Betrachtung ſind und nicht ſpecifiſch verſchiedene menſchliche Verhältniſſe.
Ein richtiges Syſtem der Staatswiſſenſchaften muß unter allen Umſtänden ſich völlig frei halten von ſolchen einzelnen Erörterungen und ganzen Disciplinen, deren Gegenſtand nicht der Staat iſt. Dieſelben ſind für ſie höchſtens Vorkenntniſſe, und
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Stamm und die Nationalität, die Geſellſchaft, der Staat und
die Staatenverbindung. Jede dieſer Hauptabtheilungen aber be-
ſteht wieder aus geſonderten Syſtemen, welche entſtehen, je
nachdem man vom Geſichtspunkte des Rechtes, der Sittlich-
keit, der Religion, oder der Zweckmäßigkeit ausgeht.
Gewöhnlich ſind allerdings nur die Lebenskreiſe der ein-
zelnen Perſönlichkeit und der Familie, ſowie die des Staates
Gegenſtand ausführlicher und geordneter wiſſenſchaftlicher Be-
handlung. Das Leben des Stammes und der Geſellſchaft iſt
bisher nur ſehr bruchſtückweiſe und gelegentlich berückſichtigt,
und alſo nicht zu einer Geſammtheit von Lehren und Kennt-
niſſen ausgebildet worden; die Beziehungen der Staatenver-
bindungen aber ſind ungetrennt von der Wiſſenſchaft des ein-
zelnen Staates behandelt. Hier iſt folglich noch ein weites
Feld für nothwendige und nützliche geiſtige Thätigkeit offen.
Wenn nämlich etwa auch die Ausarbeitung der Geſammtwiſ-
ſenſchaft des Stammes weniger dringend und fruchtbringend
ſein mag, weil das Stammes-Leben am wenigſten zur Er-
reichung der menſchlichen Lebensaufgaben beiträgt: ſo iſt eine
vollſtändige wiſſenſchaftliche Bearbeitung der Geſellſchaft um
ſo größeres Bedürfniß. Auch wäre ohne Zweifel eine voll-
ſtändige Ausſcheidung der geſammten internationalen Discipli-
nen von den Erörterungen über den einzelnen Staat nicht nur
logiſch richtig, ſondern auch in ſachlicher Beziehung fördernd;
doch mag zugegeben werden, daß bei einer ſolchen Trennung
Wiederholungen ſchwer zu vermeiden wären, und iſt es wahr,
daß in beiden Fällen Staaten Gegenſtand der Betrachtung ſind
und nicht ſpecifiſch verſchiedene menſchliche Verhältniſſe.
Ein richtiges Syſtem der Staatswiſſenſchaften muß unter
allen Umſtänden ſich völlig frei halten von ſolchen einzelnen
Erörterungen und ganzen Disciplinen, deren Gegenſtand nicht
der Staat iſt. Dieſelben ſind für ſie höchſtens Vorkenntniſſe, und
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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/57>, abgerufen am 21.11.2024.
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