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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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1. Jeder Mensch hat den Staat, in welchem er im
Wesentlichen seinen concreten vernünftigen Lebenszweck erreichen
kann und durch die Gesammteinrichtung gefördert findet, nicht
nur anzuerkennen und unangetastet zu lassen, sondern er soll
auch denselben positiv achten und ihn, wo ihm dieses nöthig
erscheint, mit Wort und That fördern und vertheidigen.
Dagegen darf niemand sich einem Staate anschließen, in welchem
er seinen vernünftigen Lebenszweck nicht zu erreichen vermag.
Entweder muß er einen solchen, wenigstens relativ unsittlichen,
Staat durch erlaubte Mittel zu ändern suchen; oder aber er
hat denselben zu verlassen. Nur Letzteres steht ihm frei, wenn
die überwiegende Mehrzahl der Bürger ihre vernünftigen Zwecke
im Staate, wie er itzt ist, erreichen zu können überzeugt ist.

2. Jeder hat die Befugniß und die Pflicht, die ihm zu-
stehenden Rechte soweit geltend zu machen, als dies zur Er-
reichung seiner vernünftigen Zwecke nöthig ist. Die Zwecke
Anderer braucht er nicht über die eigenen zu stellen, falls sie
nicht von entschieden größerer Bedeutung sind; ja er ist selbst
sittlich dazu nicht befugt. Dagegen gehen die vernünftigen
Zwecke der Gesammtheit, oder wenigstens Vieler, den Zwecken
nur Einzelner vor; und wo gar die Durchführung eines
Anspruches für den Berechtigten nicht nothwendig, für Andere
dagegen nachtheilig ist, muß sie jeden Falles unterlassen werden 1).

3. Jede Rechtsverpflichtung gegen Dritte ist pünktlichst,
d. h. gutwillig, rechtzeitig, und ohne Belästigung
des Berechtigen
, einzuhalten. Eine feste Rechtsordnung
ist Grundbedingung der Erreichung aller Lebenszwecke; ihre
Achtung und Förderung daher auch wichtige sittliche Pflicht.
Auch wenn ein Recht nicht die ganze vernünftige Forderung
erfüllt, ist es zu achten so lange es besteht, und nur durch
erlaubte Mittel kann auf dessen Verbesserung hingewirkt werden.
Ausnahmsweise ist jedoch die Verletzung einer Rechtsforderung

1. Jeder Menſch hat den Staat, in welchem er im
Weſentlichen ſeinen concreten vernünftigen Lebenszweck erreichen
kann und durch die Geſammteinrichtung gefördert findet, nicht
nur anzuerkennen und unangetaſtet zu laſſen, ſondern er ſoll
auch denſelben poſitiv achten und ihn, wo ihm dieſes nöthig
erſcheint, mit Wort und That fördern und vertheidigen.
Dagegen darf niemand ſich einem Staate anſchließen, in welchem
er ſeinen vernünftigen Lebenszweck nicht zu erreichen vermag.
Entweder muß er einen ſolchen, wenigſtens relativ unſittlichen,
Staat durch erlaubte Mittel zu ändern ſuchen; oder aber er
hat denſelben zu verlaſſen. Nur Letzteres ſteht ihm frei, wenn
die überwiegende Mehrzahl der Bürger ihre vernünftigen Zwecke
im Staate, wie er itzt iſt, erreichen zu können überzeugt iſt.

2. Jeder hat die Befugniß und die Pflicht, die ihm zu-
ſtehenden Rechte ſoweit geltend zu machen, als dies zur Er-
reichung ſeiner vernünftigen Zwecke nöthig iſt. Die Zwecke
Anderer braucht er nicht über die eigenen zu ſtellen, falls ſie
nicht von entſchieden größerer Bedeutung ſind; ja er iſt ſelbſt
ſittlich dazu nicht befugt. Dagegen gehen die vernünftigen
Zwecke der Geſammtheit, oder wenigſtens Vieler, den Zwecken
nur Einzelner vor; und wo gar die Durchführung eines
Anſpruches für den Berechtigten nicht nothwendig, für Andere
dagegen nachtheilig iſt, muß ſie jeden Falles unterlaſſen werden 1).

3. Jede Rechtsverpflichtung gegen Dritte iſt pünktlichſt,
d. h. gutwillig, rechtzeitig, und ohne Beläſtigung
des Berechtigen
, einzuhalten. Eine feſte Rechtsordnung
iſt Grundbedingung der Erreichung aller Lebenszwecke; ihre
Achtung und Förderung daher auch wichtige ſittliche Pflicht.
Auch wenn ein Recht nicht die ganze vernünftige Forderung
erfüllt, iſt es zu achten ſo lange es beſteht, und nur durch
erlaubte Mittel kann auf deſſen Verbeſſerung hingewirkt werden.
Ausnahmsweiſe iſt jedoch die Verletzung einer Rechtsforderung

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[509/0523] 1. Jeder Menſch hat den Staat, in welchem er im Weſentlichen ſeinen concreten vernünftigen Lebenszweck erreichen kann und durch die Geſammteinrichtung gefördert findet, nicht nur anzuerkennen und unangetaſtet zu laſſen, ſondern er ſoll auch denſelben poſitiv achten und ihn, wo ihm dieſes nöthig erſcheint, mit Wort und That fördern und vertheidigen. Dagegen darf niemand ſich einem Staate anſchließen, in welchem er ſeinen vernünftigen Lebenszweck nicht zu erreichen vermag. Entweder muß er einen ſolchen, wenigſtens relativ unſittlichen, Staat durch erlaubte Mittel zu ändern ſuchen; oder aber er hat denſelben zu verlaſſen. Nur Letzteres ſteht ihm frei, wenn die überwiegende Mehrzahl der Bürger ihre vernünftigen Zwecke im Staate, wie er itzt iſt, erreichen zu können überzeugt iſt. 2. Jeder hat die Befugniß und die Pflicht, die ihm zu- ſtehenden Rechte ſoweit geltend zu machen, als dies zur Er- reichung ſeiner vernünftigen Zwecke nöthig iſt. Die Zwecke Anderer braucht er nicht über die eigenen zu ſtellen, falls ſie nicht von entſchieden größerer Bedeutung ſind; ja er iſt ſelbſt ſittlich dazu nicht befugt. Dagegen gehen die vernünftigen Zwecke der Geſammtheit, oder wenigſtens Vieler, den Zwecken nur Einzelner vor; und wo gar die Durchführung eines Anſpruches für den Berechtigten nicht nothwendig, für Andere dagegen nachtheilig iſt, muß ſie jeden Falles unterlaſſen werden 1). 3. Jede Rechtsverpflichtung gegen Dritte iſt pünktlichſt, d. h. gutwillig, rechtzeitig, und ohne Beläſtigung des Berechtigen, einzuhalten. Eine feſte Rechtsordnung iſt Grundbedingung der Erreichung aller Lebenszwecke; ihre Achtung und Förderung daher auch wichtige ſittliche Pflicht. Auch wenn ein Recht nicht die ganze vernünftige Forderung erfüllt, iſt es zu achten ſo lange es beſteht, und nur durch erlaubte Mittel kann auf deſſen Verbeſſerung hingewirkt werden. Ausnahmsweiſe iſt jedoch die Verletzung einer Rechtsforderung

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/523>, abgerufen am 20.05.2024.