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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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sehr verderblich sein. Sie mögen mit den Richtungen der übrigen,
einfacheren und zusammengesetzteren, Lebenskreise des Menschen
zusammenfallen und sie dann stärken und steigern, oder aber
sie hemmen, verändern, ganz aufheben; sie können ihrer Macht
nach vorwiegen und ein Volk vorzugsweise in Anspruch nehmen,
aber auch, bei großer Gleichförmigkeit seiner Bestandtheile und
Interessen, zurücktreten, oder vielmehr einfach mit dem Wesen
desselben zusammenfallen. Willkührlich bestimmbar sind übrigens
weder die gesellschaftlichen Kreise selbst, noch ihre Folgen;
sondern beide stammen natürlicher und unvermeidlicher Weise
aus den Thatsachen. Diese letzteren sind zwar vielleicht, ganz
oder theilweise, aus menschlichem Willen hervorgegangen, oder
können auch wohl mit Bewußtsein abgeändert werden; allein
wenn sie einmal bestehen und so lange sie bestehen, haben sie
ihren nothwendigen Verlauf und ihre Wirkung.

Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die gesellschaftlichen
Kreise nicht außer ihren natürlichen psychologischen, sittlichen
und Zweckmäßigkeits-Gesetzen auch bindenden äußeren Normen
zu folgen haben. Einmal ordnet nicht selten die positive Religion
manche gesellschaftliche Verhältnisse. Zweitens aber können
auch für die Gesellschaft aus allen Quellen, welche überhaupt
Rechte erzeugen[,] Zwangsvorschriften entstehen. So aus der
Vernunft ein natürliches Recht, d. h. Feststellung der nothwen-
digen Mittel zur Erreichung der Zwecke; aus Gewohnheit und
allgemeinem Rechtsbewußtsein ein positives Recht, oft mit sehr
empfindlichen Folgen für die Dawiderhandelnden; endlich aus
zuständiger äußerer Auctorität schriftliches Gesetz 3).

1) Die itzt gewonnene Auffassung der Gesellschaft als eines eigenen
Lebenskreises, welcher verschieden ist einerseits vom Einzelleben und dessen Er-
weiterung zu Familie und Stamm, andererseits vom Staate und dessen höheren
Zusammensetzung, ist eine wissenschaftliche Thatsache von großer Bedeutung.
Es war selbst der Begriff der Gesellschaft ein unmöglicher, solange die Staats-

ſehr verderblich ſein. Sie mögen mit den Richtungen der übrigen,
einfacheren und zuſammengeſetzteren, Lebenskreiſe des Menſchen
zuſammenfallen und ſie dann ſtärken und ſteigern, oder aber
ſie hemmen, verändern, ganz aufheben; ſie können ihrer Macht
nach vorwiegen und ein Volk vorzugsweiſe in Anſpruch nehmen,
aber auch, bei großer Gleichförmigkeit ſeiner Beſtandtheile und
Intereſſen, zurücktreten, oder vielmehr einfach mit dem Weſen
deſſelben zuſammenfallen. Willkührlich beſtimmbar ſind übrigens
weder die geſellſchaftlichen Kreiſe ſelbſt, noch ihre Folgen;
ſondern beide ſtammen natürlicher und unvermeidlicher Weiſe
aus den Thatſachen. Dieſe letzteren ſind zwar vielleicht, ganz
oder theilweiſe, aus menſchlichem Willen hervorgegangen, oder
können auch wohl mit Bewußtſein abgeändert werden; allein
wenn ſie einmal beſtehen und ſo lange ſie beſtehen, haben ſie
ihren nothwendigen Verlauf und ihre Wirkung.

Damit iſt jedoch nicht geſagt, daß die geſellſchaftlichen
Kreiſe nicht außer ihren natürlichen pſychologiſchen, ſittlichen
und Zweckmäßigkeits-Geſetzen auch bindenden äußeren Normen
zu folgen haben. Einmal ordnet nicht ſelten die poſitive Religion
manche geſellſchaftliche Verhältniſſe. Zweitens aber können
auch für die Geſellſchaft aus allen Quellen, welche überhaupt
Rechte erzeugen[,] Zwangsvorſchriften entſtehen. So aus der
Vernunft ein natürliches Recht, d. h. Feſtſtellung der nothwen-
digen Mittel zur Erreichung der Zwecke; aus Gewohnheit und
allgemeinem Rechtsbewußtſein ein poſitives Recht, oft mit ſehr
empfindlichen Folgen für die Dawiderhandelnden; endlich aus
zuſtändiger äußerer Auctorität ſchriftliches Geſetz 3).

1) Die itzt gewonnene Auffaſſung der Geſellſchaft als eines eigenen
Lebenskreiſes, welcher verſchieden iſt einerſeits vom Einzelleben und deſſen Er-
weiterung zu Familie und Stamm, andererſeits vom Staate und deſſen höheren
Zuſammenſetzung, iſt eine wiſſenſchaftliche Thatſache von großer Bedeutung.
Es war ſelbſt der Begriff der Geſellſchaft ein unmöglicher, ſolange die Staats-
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[27/0041] ſehr verderblich ſein. Sie mögen mit den Richtungen der übrigen, einfacheren und zuſammengeſetzteren, Lebenskreiſe des Menſchen zuſammenfallen und ſie dann ſtärken und ſteigern, oder aber ſie hemmen, verändern, ganz aufheben; ſie können ihrer Macht nach vorwiegen und ein Volk vorzugsweiſe in Anſpruch nehmen, aber auch, bei großer Gleichförmigkeit ſeiner Beſtandtheile und Intereſſen, zurücktreten, oder vielmehr einfach mit dem Weſen deſſelben zuſammenfallen. Willkührlich beſtimmbar ſind übrigens weder die geſellſchaftlichen Kreiſe ſelbſt, noch ihre Folgen; ſondern beide ſtammen natürlicher und unvermeidlicher Weiſe aus den Thatſachen. Dieſe letzteren ſind zwar vielleicht, ganz oder theilweiſe, aus menſchlichem Willen hervorgegangen, oder können auch wohl mit Bewußtſein abgeändert werden; allein wenn ſie einmal beſtehen und ſo lange ſie beſtehen, haben ſie ihren nothwendigen Verlauf und ihre Wirkung. Damit iſt jedoch nicht geſagt, daß die geſellſchaftlichen Kreiſe nicht außer ihren natürlichen pſychologiſchen, ſittlichen und Zweckmäßigkeits-Geſetzen auch bindenden äußeren Normen zu folgen haben. Einmal ordnet nicht ſelten die poſitive Religion manche geſellſchaftliche Verhältniſſe. Zweitens aber können auch für die Geſellſchaft aus allen Quellen, welche überhaupt Rechte erzeugen, Zwangsvorſchriften entſtehen. So aus der Vernunft ein natürliches Recht, d. h. Feſtſtellung der nothwen- digen Mittel zur Erreichung der Zwecke; aus Gewohnheit und allgemeinem Rechtsbewußtſein ein poſitives Recht, oft mit ſehr empfindlichen Folgen für die Dawiderhandelnden; endlich aus zuſtändiger äußerer Auctorität ſchriftliches Geſetz 3). ¹⁾ Die itzt gewonnene Auffaſſung der Geſellſchaft als eines eigenen Lebenskreiſes, welcher verſchieden iſt einerſeits vom Einzelleben und deſſen Er- weiterung zu Familie und Stamm, andererſeits vom Staate und deſſen höheren Zuſammenſetzung, iſt eine wiſſenſchaftliche Thatſache von großer Bedeutung. Es war ſelbſt der Begriff der Geſellſchaft ein unmöglicher, ſolange die Staats-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/41>, abgerufen am 29.03.2024.