Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

Minderzahl zu bezeichnen, so ist eine Aristokratie als rationell
begründet und rechtlich erlaubt zu erklären.

In diesem enscheidenden Punkte gebricht es nun freilich an
vollständiger Sicherheit, und ist man auf das Feld der Mög-
lichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gestellt. Eine gesellschaftliche
oder staatliche Minderheit, deren sämmtlichen einzelnen Ange-
hörigen höhere Tüchtigkeit zu Staatsgeschäften mit innerer
Nothwendigkeit
zustände, ist um so weniger aufzufinden,
als eine Wahl, wie bereits bemerkt, nicht verträglich ist mit
den Grundgedanken der concreten Staatsform. Es bleibt also
nur übrig, solche Verhältnisse aufzusuchen, in welchen we-
nigstens mit Wahrscheinlichkeit eine besondere Taug-
lichkeit zu erwarten steht. Als die einzigen Zustände dieser
Art bieten sich denn nun aber dar die Abstammung von
bestimmten Geschlechtern, welche sich in den öffentlichen An-
gelegenheiten erfahrungsgemäß ausgezeichnet haben, und der
Besitz großer Reichthümer. Allerdings haben beide That-
sachen keine nothwendige und unmittelbare Beziehung zur
Fähigkeit und zum Willen, gut zu regieren; allein Wahrschein-
lichkeitsschlüsse lassen sich doch ziehen. Die Abstammung von
tüchtigen und berühmten Vorfahren erweckt bei guter Erziehung
und leidlicher eigener Anlage den Entschluß, nicht nachstehen zu
wollen; frühe Vorbereitung zu öffentlichen Geschäften gibt
Kenntnisse und Uebung; ehrenhafte Ueberlieferung in der Familie
erweckt Selbstgefühl und vornehme Gesinnung. Der Besitz
großen Vermögens aber gewährt alle Mittel zu höherer Aus-
bildung, hält Noth und deren erniedrigende Folgen im Wollen
und Handeln ferne, reizt wohl zur Auszeichnung auch in an-
dern Beziehungen. Diese Vermuthungen sind an sich nicht
unverständig; unglücklicherweise stehen ihnen aber auch weniger
günstige Wahrscheinlichkeiten und sogar entschiedene Nachtheile
zur Seite. Nicht in Abrede kann nämlich gestellt werden, daß

Minderzahl zu bezeichnen, ſo iſt eine Ariſtokratie als rationell
begründet und rechtlich erlaubt zu erklären.

In dieſem enſcheidenden Punkte gebricht es nun freilich an
vollſtändiger Sicherheit, und iſt man auf das Feld der Mög-
lichkeiten und Wahrſcheinlichkeiten geſtellt. Eine geſellſchaftliche
oder ſtaatliche Minderheit, deren ſämmtlichen einzelnen Ange-
hörigen höhere Tüchtigkeit zu Staatsgeſchäften mit innerer
Nothwendigkeit
zuſtände, iſt um ſo weniger aufzufinden,
als eine Wahl, wie bereits bemerkt, nicht verträglich iſt mit
den Grundgedanken der concreten Staatsform. Es bleibt alſo
nur übrig, ſolche Verhältniſſe aufzuſuchen, in welchen we-
nigſtens mit Wahrſcheinlichkeit eine beſondere Taug-
lichkeit zu erwarten ſteht. Als die einzigen Zuſtände dieſer
Art bieten ſich denn nun aber dar die Abſtammung von
beſtimmten Geſchlechtern, welche ſich in den öffentlichen An-
gelegenheiten erfahrungsgemäß ausgezeichnet haben, und der
Beſitz großer Reichthümer. Allerdings haben beide That-
ſachen keine nothwendige und unmittelbare Beziehung zur
Fähigkeit und zum Willen, gut zu regieren; allein Wahrſchein-
lichkeitsſchlüſſe laſſen ſich doch ziehen. Die Abſtammung von
tüchtigen und berühmten Vorfahren erweckt bei guter Erziehung
und leidlicher eigener Anlage den Entſchluß, nicht nachſtehen zu
wollen; frühe Vorbereitung zu öffentlichen Geſchäften gibt
Kenntniſſe und Uebung; ehrenhafte Ueberlieferung in der Familie
erweckt Selbſtgefühl und vornehme Geſinnung. Der Beſitz
großen Vermögens aber gewährt alle Mittel zu höherer Aus-
bildung, hält Noth und deren erniedrigende Folgen im Wollen
und Handeln ferne, reizt wohl zur Auszeichnung auch in an-
dern Beziehungen. Dieſe Vermuthungen ſind an ſich nicht
unverſtändig; unglücklicherweiſe ſtehen ihnen aber auch weniger
günſtige Wahrſcheinlichkeiten und ſogar entſchiedene Nachtheile
zur Seite. Nicht in Abrede kann nämlich geſtellt werden, daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0364" n="350"/>
Minderzahl zu bezeichnen, &#x017F;o i&#x017F;t eine Ari&#x017F;tokratie als rationell<lb/>
begründet und rechtlich erlaubt zu erklären.</p><lb/>
                      <p>In die&#x017F;em en&#x017F;cheidenden Punkte gebricht es nun freilich an<lb/>
voll&#x017F;tändiger Sicherheit, und i&#x017F;t man auf das Feld der Mög-<lb/>
lichkeiten und Wahr&#x017F;cheinlichkeiten ge&#x017F;tellt. Eine ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche<lb/>
oder &#x017F;taatliche Minderheit, deren &#x017F;ämmtlichen einzelnen Ange-<lb/>
hörigen höhere Tüchtigkeit zu Staatsge&#x017F;chäften mit <hi rendition="#g">innerer<lb/>
Nothwendigkeit</hi> zu&#x017F;tände, i&#x017F;t um &#x017F;o weniger aufzufinden,<lb/>
als eine Wahl, wie bereits bemerkt, nicht verträglich i&#x017F;t mit<lb/>
den Grundgedanken der concreten Staatsform. Es bleibt al&#x017F;o<lb/>
nur übrig, &#x017F;olche Verhältni&#x017F;&#x017F;e aufzu&#x017F;uchen, in welchen we-<lb/>
nig&#x017F;tens mit <hi rendition="#g">Wahr&#x017F;cheinlichkeit</hi> eine be&#x017F;ondere Taug-<lb/>
lichkeit zu erwarten &#x017F;teht. Als die einzigen Zu&#x017F;tände die&#x017F;er<lb/>
Art bieten &#x017F;ich denn nun aber dar die Ab&#x017F;tammung von<lb/>
be&#x017F;timmten Ge&#x017F;chlechtern, welche &#x017F;ich in den öffentlichen An-<lb/>
gelegenheiten erfahrungsgemäß ausgezeichnet haben, und der<lb/>
Be&#x017F;itz großer Reichthümer. Allerdings haben beide That-<lb/>
&#x017F;achen keine nothwendige und unmittelbare Beziehung zur<lb/>
Fähigkeit und zum Willen, gut zu regieren; allein Wahr&#x017F;chein-<lb/>
lichkeits&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich doch ziehen. Die Ab&#x017F;tammung von<lb/>
tüchtigen und berühmten Vorfahren erweckt bei guter Erziehung<lb/>
und leidlicher eigener Anlage den Ent&#x017F;chluß, nicht nach&#x017F;tehen zu<lb/>
wollen; frühe Vorbereitung zu öffentlichen Ge&#x017F;chäften gibt<lb/>
Kenntni&#x017F;&#x017F;e und Uebung; ehrenhafte Ueberlieferung in der Familie<lb/>
erweckt Selb&#x017F;tgefühl und vornehme Ge&#x017F;innung. Der Be&#x017F;itz<lb/>
großen Vermögens aber gewährt alle Mittel zu höherer Aus-<lb/>
bildung, hält Noth und deren erniedrigende Folgen im Wollen<lb/>
und Handeln ferne, reizt wohl zur Auszeichnung auch in an-<lb/>
dern Beziehungen. Die&#x017F;e Vermuthungen &#x017F;ind an &#x017F;ich nicht<lb/>
unver&#x017F;tändig; unglücklicherwei&#x017F;e &#x017F;tehen ihnen aber auch weniger<lb/>
gün&#x017F;tige Wahr&#x017F;cheinlichkeiten und &#x017F;ogar ent&#x017F;chiedene Nachtheile<lb/>
zur Seite. Nicht in Abrede kann nämlich ge&#x017F;tellt werden, daß<lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[350/0364] Minderzahl zu bezeichnen, ſo iſt eine Ariſtokratie als rationell begründet und rechtlich erlaubt zu erklären. In dieſem enſcheidenden Punkte gebricht es nun freilich an vollſtändiger Sicherheit, und iſt man auf das Feld der Mög- lichkeiten und Wahrſcheinlichkeiten geſtellt. Eine geſellſchaftliche oder ſtaatliche Minderheit, deren ſämmtlichen einzelnen Ange- hörigen höhere Tüchtigkeit zu Staatsgeſchäften mit innerer Nothwendigkeit zuſtände, iſt um ſo weniger aufzufinden, als eine Wahl, wie bereits bemerkt, nicht verträglich iſt mit den Grundgedanken der concreten Staatsform. Es bleibt alſo nur übrig, ſolche Verhältniſſe aufzuſuchen, in welchen we- nigſtens mit Wahrſcheinlichkeit eine beſondere Taug- lichkeit zu erwarten ſteht. Als die einzigen Zuſtände dieſer Art bieten ſich denn nun aber dar die Abſtammung von beſtimmten Geſchlechtern, welche ſich in den öffentlichen An- gelegenheiten erfahrungsgemäß ausgezeichnet haben, und der Beſitz großer Reichthümer. Allerdings haben beide That- ſachen keine nothwendige und unmittelbare Beziehung zur Fähigkeit und zum Willen, gut zu regieren; allein Wahrſchein- lichkeitsſchlüſſe laſſen ſich doch ziehen. Die Abſtammung von tüchtigen und berühmten Vorfahren erweckt bei guter Erziehung und leidlicher eigener Anlage den Entſchluß, nicht nachſtehen zu wollen; frühe Vorbereitung zu öffentlichen Geſchäften gibt Kenntniſſe und Uebung; ehrenhafte Ueberlieferung in der Familie erweckt Selbſtgefühl und vornehme Geſinnung. Der Beſitz großen Vermögens aber gewährt alle Mittel zu höherer Aus- bildung, hält Noth und deren erniedrigende Folgen im Wollen und Handeln ferne, reizt wohl zur Auszeichnung auch in an- dern Beziehungen. Dieſe Vermuthungen ſind an ſich nicht unverſtändig; unglücklicherweiſe ſtehen ihnen aber auch weniger günſtige Wahrſcheinlichkeiten und ſogar entſchiedene Nachtheile zur Seite. Nicht in Abrede kann nämlich geſtellt werden, daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/364
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/364>, abgerufen am 12.05.2024.