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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Die Gründung und Erhaltung eines Staates, welcher
durch eine Volksversammlung regiert werden soll, ist keines-
wegs blos Sache des Willens, sondern sie ist vielmehr bedingt
durch mehrfache äußere Verhältnisse, ohne deren gleichzeitiges
Vorhandensein eine solche Regierungsform thatsächlich unaus-
führbar, dann aber auch rechtlich unerlaubt ist, weil etwas
Unmögliches nicht Recht sein kann. Diese Bedingungen sind
aber:

1. Beschränkung des Gebietes und der Volks-
zahl
auf ein so geringes Maß, daß die gesammten Bürger
sich, nach Bedürfniß der Geschäfte, häufig und schnell genug
versammeln können, und daß die Größe der von ihnen gebil-
deten Versammlung die Möglichkeit der Ausfüllung durch eine
menschliche Stimme nicht überschreitet.

2. Möglichkeit, die vorkommenden Geschäfte ohne Hin-
derniß durch klimatische Verhältnisse in offener Ver-
sammlung zu besorgen; also entweder ein beständig milder Him-
melsstrich, oder eine solche Einfachheit der ganzen Staatsver-
hältnisse, daß die nöthigen Beschlüsse in jedem Jahre zu günstiger
Zeit getroffen werden können.

3. Wirthschaftliche Befähigung der Bürger, den
Staatsgeschäften die nöthige Zeit zu widmen. Dies ist für die
Masse, falls man nicht zu dem unerlaubten und vielfach ver-
derblichen Mittel der Haussklaverei greifen will, kaum anders
möglich, als bei sehr einfachem gewerblichem oder landwirth-
schaftlichem Betriebe und bei wenigstens leidlicher allgemeiner
Wohlhabenheit.

Außerdem muß fast noch in gleiche Reihe mit diesen
Grundbedingungen die Abwesenheit bedeutender und
bleibender Verschiedenheiten in der Zusammen-
setzung des Volkes
gestellt werden. Wenn die Mitglieder
der Volksversammlung in Beziehung auf wesentliche Eigen-

Die Gründung und Erhaltung eines Staates, welcher
durch eine Volksverſammlung regiert werden ſoll, iſt keines-
wegs blos Sache des Willens, ſondern ſie iſt vielmehr bedingt
durch mehrfache äußere Verhältniſſe, ohne deren gleichzeitiges
Vorhandenſein eine ſolche Regierungsform thatſächlich unaus-
führbar, dann aber auch rechtlich unerlaubt iſt, weil etwas
Unmögliches nicht Recht ſein kann. Dieſe Bedingungen ſind
aber:

1. Beſchränkung des Gebietes und der Volks-
zahl
auf ein ſo geringes Maß, daß die geſammten Bürger
ſich, nach Bedürfniß der Geſchäfte, häufig und ſchnell genug
verſammeln können, und daß die Größe der von ihnen gebil-
deten Verſammlung die Möglichkeit der Ausfüllung durch eine
menſchliche Stimme nicht überſchreitet.

2. Möglichkeit, die vorkommenden Geſchäfte ohne Hin-
derniß durch klimatiſche Verhältniſſe in offener Ver-
ſammlung zu beſorgen; alſo entweder ein beſtändig milder Him-
melsſtrich, oder eine ſolche Einfachheit der ganzen Staatsver-
hältniſſe, daß die nöthigen Beſchlüſſe in jedem Jahre zu günſtiger
Zeit getroffen werden können.

3. Wirthſchaftliche Befähigung der Bürger, den
Staatsgeſchäften die nöthige Zeit zu widmen. Dies iſt für die
Maſſe, falls man nicht zu dem unerlaubten und vielfach ver-
derblichen Mittel der Hausſklaverei greifen will, kaum anders
möglich, als bei ſehr einfachem gewerblichem oder landwirth-
ſchaftlichem Betriebe und bei wenigſtens leidlicher allgemeiner
Wohlhabenheit.

Außerdem muß faſt noch in gleiche Reihe mit dieſen
Grundbedingungen die Abweſenheit bedeutender und
bleibender Verſchiedenheiten in der Zuſammen-
ſetzung des Volkes
geſtellt werden. Wenn die Mitglieder
der Volksverſammlung in Beziehung auf weſentliche Eigen-

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[338/0352] Die Gründung und Erhaltung eines Staates, welcher durch eine Volksverſammlung regiert werden ſoll, iſt keines- wegs blos Sache des Willens, ſondern ſie iſt vielmehr bedingt durch mehrfache äußere Verhältniſſe, ohne deren gleichzeitiges Vorhandenſein eine ſolche Regierungsform thatſächlich unaus- führbar, dann aber auch rechtlich unerlaubt iſt, weil etwas Unmögliches nicht Recht ſein kann. Dieſe Bedingungen ſind aber: 1. Beſchränkung des Gebietes und der Volks- zahl auf ein ſo geringes Maß, daß die geſammten Bürger ſich, nach Bedürfniß der Geſchäfte, häufig und ſchnell genug verſammeln können, und daß die Größe der von ihnen gebil- deten Verſammlung die Möglichkeit der Ausfüllung durch eine menſchliche Stimme nicht überſchreitet. 2. Möglichkeit, die vorkommenden Geſchäfte ohne Hin- derniß durch klimatiſche Verhältniſſe in offener Ver- ſammlung zu beſorgen; alſo entweder ein beſtändig milder Him- melsſtrich, oder eine ſolche Einfachheit der ganzen Staatsver- hältniſſe, daß die nöthigen Beſchlüſſe in jedem Jahre zu günſtiger Zeit getroffen werden können. 3. Wirthſchaftliche Befähigung der Bürger, den Staatsgeſchäften die nöthige Zeit zu widmen. Dies iſt für die Maſſe, falls man nicht zu dem unerlaubten und vielfach ver- derblichen Mittel der Hausſklaverei greifen will, kaum anders möglich, als bei ſehr einfachem gewerblichem oder landwirth- ſchaftlichem Betriebe und bei wenigſtens leidlicher allgemeiner Wohlhabenheit. Außerdem muß faſt noch in gleiche Reihe mit dieſen Grundbedingungen die Abweſenheit bedeutender und bleibender Verſchiedenheiten in der Zuſammen- ſetzung des Volkes geſtellt werden. Wenn die Mitglieder der Volksverſammlung in Beziehung auf weſentliche Eigen-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/352>, abgerufen am 13.05.2024.