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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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die aus denselben sich ergebenden Gesittigungszustände zu ein-
seitiger Ausbildung verurtheilt. Wo aber nicht das Vollständige
erreicht werden kann, ist es Gebot der Vernunft, das Unerläß-
liche vor dem Unwesentlicheren und die Voraussetzung vor dem
Bedingten anzustreben, bei der Ausführung aber die Verhält-
nißmäßigkeit der Mittel im Auge zu behalten.

Es ergibt sich hieraus nachstehende in der großen Mehr-
zahl der Fälle als Norm dienende Reihenfolge der Lebenszwecke:

Erhaltung des eigenen Lebens und der Gesundheit, (als
Bedingung alles Weiteren);

Fortpflanzung des Geschlechtes, (als Bedingung der Fort-
dauer);

Sittliche und religiöse Bildung, (als Grundlage des Zu-
sammenseins und Richtung für das ganze Leben).

Verstandesbildung, und zwar der allgemeinen vor der be-
sonderen wenn auch höheren, (als hauptsächlichstes Mittel zur
Erreichung der übrigen Aufgaben).

Geschmacksbildung, (einerseits weniger nothwendig als die
übrigen geistigen Richtungen, andererseits nur als Blüthe dieser
gedeihend);

Behaglicher Lebensgenuß, (theils Folge der Erreichung der
bisherigen Aufgaben, theils erst erlaubt, wenn diese vollständig
gelöst sind).

Es ist vielleicht ein Unglück, aber kein Unrecht, wenn der
einzelne Mensch aus allgemeinen oder besondern Ursachen diese
ganze Reihenfolge der Lebenszwecke durchzuleben nicht vermag;
wohl aber ist es unvernünftig, und also unsittlich, wenn er
das natürliche Verhältniß derselben verkehrt 1).

Durch die Verfolgung dieser verschiedenen Zwecke und
durch die Beibringung der Mittel zu ihrer Erreichung zieht
jeder einzelne Mensch einen Lebenskreis um sich
,
dessen Mittelpunkt er selbst, dessen Umkreis aber die ganze

die aus denſelben ſich ergebenden Geſittigungszuſtände zu ein-
ſeitiger Ausbildung verurtheilt. Wo aber nicht das Vollſtändige
erreicht werden kann, iſt es Gebot der Vernunft, das Unerläß-
liche vor dem Unweſentlicheren und die Vorausſetzung vor dem
Bedingten anzuſtreben, bei der Ausführung aber die Verhält-
nißmäßigkeit der Mittel im Auge zu behalten.

Es ergibt ſich hieraus nachſtehende in der großen Mehr-
zahl der Fälle als Norm dienende Reihenfolge der Lebenszwecke:

Erhaltung des eigenen Lebens und der Geſundheit, (als
Bedingung alles Weiteren);

Fortpflanzung des Geſchlechtes, (als Bedingung der Fort-
dauer);

Sittliche und religiöſe Bildung, (als Grundlage des Zu-
ſammenſeins und Richtung für das ganze Leben).

Verſtandesbildung, und zwar der allgemeinen vor der be-
ſonderen wenn auch höheren, (als hauptſächlichſtes Mittel zur
Erreichung der übrigen Aufgaben).

Geſchmacksbildung, (einerſeits weniger nothwendig als die
übrigen geiſtigen Richtungen, andererſeits nur als Blüthe dieſer
gedeihend);

Behaglicher Lebensgenuß, (theils Folge der Erreichung der
bisherigen Aufgaben, theils erſt erlaubt, wenn dieſe vollſtändig
gelöst ſind).

Es iſt vielleicht ein Unglück, aber kein Unrecht, wenn der
einzelne Menſch aus allgemeinen oder beſondern Urſachen dieſe
ganze Reihenfolge der Lebenszwecke durchzuleben nicht vermag;
wohl aber iſt es unvernünftig, und alſo unſittlich, wenn er
das natürliche Verhältniß derſelben verkehrt 1).

Durch die Verfolgung dieſer verſchiedenen Zwecke und
durch die Beibringung der Mittel zu ihrer Erreichung zieht
jeder einzelne Menſch einen Lebenskreis um ſich
,
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[8/0022] die aus denſelben ſich ergebenden Geſittigungszuſtände zu ein- ſeitiger Ausbildung verurtheilt. Wo aber nicht das Vollſtändige erreicht werden kann, iſt es Gebot der Vernunft, das Unerläß- liche vor dem Unweſentlicheren und die Vorausſetzung vor dem Bedingten anzuſtreben, bei der Ausführung aber die Verhält- nißmäßigkeit der Mittel im Auge zu behalten. Es ergibt ſich hieraus nachſtehende in der großen Mehr- zahl der Fälle als Norm dienende Reihenfolge der Lebenszwecke: Erhaltung des eigenen Lebens und der Geſundheit, (als Bedingung alles Weiteren); Fortpflanzung des Geſchlechtes, (als Bedingung der Fort- dauer); Sittliche und religiöſe Bildung, (als Grundlage des Zu- ſammenſeins und Richtung für das ganze Leben). Verſtandesbildung, und zwar der allgemeinen vor der be- ſonderen wenn auch höheren, (als hauptſächlichſtes Mittel zur Erreichung der übrigen Aufgaben). Geſchmacksbildung, (einerſeits weniger nothwendig als die übrigen geiſtigen Richtungen, andererſeits nur als Blüthe dieſer gedeihend); Behaglicher Lebensgenuß, (theils Folge der Erreichung der bisherigen Aufgaben, theils erſt erlaubt, wenn dieſe vollſtändig gelöst ſind). Es iſt vielleicht ein Unglück, aber kein Unrecht, wenn der einzelne Menſch aus allgemeinen oder beſondern Urſachen dieſe ganze Reihenfolge der Lebenszwecke durchzuleben nicht vermag; wohl aber iſt es unvernünftig, und alſo unſittlich, wenn er das natürliche Verhältniß derſelben verkehrt 1). Durch die Verfolgung dieſer verſchiedenen Zwecke und durch die Beibringung der Mittel zu ihrer Erreichung zieht jeder einzelne Menſch einen Lebenskreis um ſich, deſſen Mittelpunkt er ſelbſt, deſſen Umkreis aber die ganze

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/22>, abgerufen am 24.11.2024.