verdreht worden. Ganz richtig ist nun ohne Zweifel, daß jede eigenthümliche Lebensanschauung auch eine entsprechende Sinnes- weise und vorherrschende Neigungen und Leidenschaften erzeugt; ebenso ist unläugbar, daß sich eine solche Geistesbeschaffenheit auch im Staatsleben geltend macht; und es ist namentlich Sache der Staatsklugheit, einen so bedeutenden Hebel in jedem einzelnen Falle richtig zu erkennen und geschickt anzu- wenden; allein diese Gemüthsstimmungen sind nicht die Grund- lagen, sondern vielmehr die Folgen der wesentlichen Staaten- verschiedenheiten, sie sagen nichts aus über die zu lösenden Aufgaben, und sie begründen keine Rechte und Pflichten. Es ist somit eine Frage von nur untergeordnetem Interesse, ob die angegebenen Geistesrichtungen wahr und ob sie erschöpfend angegeben sind. Im Uebrigen wäre es wohl am richtigsten, als vorwiegende Stimmung im patriarchalischen Staate naive Stammesliebe anzunehmen; im Patrimonialstaate Festhaltung des individuellen Rechtes, verbunden mit kriegerischem Geiste in der besonderen Form des Lehenstaats; in der Theokratie gläubige Frömmigkeit; im antiken Staate Gemeinsinn und Aufopferungsfähigkeit; im Rechtsstaate der Neuzeit vielseitigen Bildungstrieb, aber auch Selbstsucht erlaubter und unsittlicher Art, mit verschiedenen Abstufungen je nach den einzelnen Formen, z. B. in der unbeschränkten Monarchie als Ehrgeiz, in der Volksherrschaft als Unabhängigkeitssinn, in Erbstaaten mit Volksvertretung als Eifersucht und Mißtrauen; in der Despotie endlich sittliche Verworfenheit und Feigheit.
1) Die Literatur über die Verschiedenheit der Staatsarten ist sehr groß. Man sehe z. B.: Heeren, Ideen über Politik, 2. Aufl., Bd. I, S. 978 fg. -- Schleiermacher, Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen (Abhandl. der Berl. Akad., 1814). -- Welker, Letzte Gründe. -- Duden, Verschiedenheit der Staaten. -- Grundsätze und Ansichten über Staatsformen und deren Ableitung aus dem Wesen des Staates selbst. Leipzig, 1832. -- Leo, H., Naturlehre des Staates. Halle, 1833. -- Rohmer, Th., Die
verdreht worden. Ganz richtig iſt nun ohne Zweifel, daß jede eigenthümliche Lebensanſchauung auch eine entſprechende Sinnes- weiſe und vorherrſchende Neigungen und Leidenſchaften erzeugt; ebenſo iſt unläugbar, daß ſich eine ſolche Geiſtesbeſchaffenheit auch im Staatsleben geltend macht; und es iſt namentlich Sache der Staatsklugheit, einen ſo bedeutenden Hebel in jedem einzelnen Falle richtig zu erkennen und geſchickt anzu- wenden; allein dieſe Gemüthsſtimmungen ſind nicht die Grund- lagen, ſondern vielmehr die Folgen der weſentlichen Staaten- verſchiedenheiten, ſie ſagen nichts aus über die zu löſenden Aufgaben, und ſie begründen keine Rechte und Pflichten. Es iſt ſomit eine Frage von nur untergeordnetem Intereſſe, ob die angegebenen Geiſtesrichtungen wahr und ob ſie erſchöpfend angegeben ſind. Im Uebrigen wäre es wohl am richtigſten, als vorwiegende Stimmung im patriarchaliſchen Staate naive Stammesliebe anzunehmen; im Patrimonialſtaate Feſthaltung des individuellen Rechtes, verbunden mit kriegeriſchem Geiſte in der beſonderen Form des Lehenſtaats; in der Theokratie gläubige Frömmigkeit; im antiken Staate Gemeinſinn und Aufopferungsfähigkeit; im Rechtsſtaate der Neuzeit vielſeitigen Bildungstrieb, aber auch Selbſtſucht erlaubter und unſittlicher Art, mit verſchiedenen Abſtufungen je nach den einzelnen Formen, z. B. in der unbeſchränkten Monarchie als Ehrgeiz, in der Volksherrſchaft als Unabhängigkeitsſinn, in Erbſtaaten mit Volksvertretung als Eiferſucht und Mißtrauen; in der Despotie endlich ſittliche Verworfenheit und Feigheit.
1) Die Literatur über die Verſchiedenheit der Staatsarten iſt ſehr groß. Man ſehe z. B.: Heeren, Ideen über Politik, 2. Aufl., Bd. I, S. 978 fg. — Schleiermacher, Ueber die Begriffe der verſchiedenen Staatsformen (Abhandl. der Berl. Akad., 1814). — Welker, Letzte Gründe. — Duden, Verſchiedenheit der Staaten. — Grundſätze und Anſichten über Staatsformen und deren Ableitung aus dem Weſen des Staates ſelbſt. Leipzig, 1832. — Leo, H., Naturlehre des Staates. Halle, 1833. — Rohmer, Th., Die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0117"n="103"/>
verdreht worden. Ganz richtig iſt nun ohne Zweifel, daß jede<lb/>
eigenthümliche Lebensanſchauung auch eine entſprechende Sinnes-<lb/>
weiſe und vorherrſchende Neigungen und Leidenſchaften erzeugt;<lb/>
ebenſo iſt unläugbar, daß ſich eine ſolche Geiſtesbeſchaffenheit<lb/>
auch im Staatsleben geltend macht; und es iſt namentlich<lb/>
Sache der Staatsklugheit, einen ſo bedeutenden Hebel in<lb/>
jedem einzelnen Falle richtig zu erkennen und geſchickt anzu-<lb/>
wenden; allein dieſe Gemüthsſtimmungen ſind nicht die Grund-<lb/>
lagen, ſondern vielmehr die Folgen der weſentlichen Staaten-<lb/>
verſchiedenheiten, ſie ſagen nichts aus über die zu löſenden<lb/>
Aufgaben, und ſie begründen keine Rechte und Pflichten. Es<lb/>
iſt ſomit eine Frage von nur untergeordnetem Intereſſe, ob<lb/>
die angegebenen Geiſtesrichtungen wahr und ob ſie erſchöpfend<lb/>
angegeben ſind. Im Uebrigen wäre es wohl am richtigſten,<lb/>
als vorwiegende Stimmung im patriarchaliſchen Staate naive<lb/>
Stammesliebe anzunehmen; im Patrimonialſtaate Feſthaltung<lb/>
des individuellen Rechtes, verbunden mit kriegeriſchem Geiſte<lb/>
in der beſonderen Form des Lehenſtaats; in der Theokratie<lb/>
gläubige Frömmigkeit; im antiken Staate Gemeinſinn und<lb/>
Aufopferungsfähigkeit; im Rechtsſtaate der Neuzeit vielſeitigen<lb/>
Bildungstrieb, aber auch Selbſtſucht erlaubter und unſittlicher<lb/>
Art, mit verſchiedenen Abſtufungen je nach den einzelnen<lb/>
Formen, z. B. in der unbeſchränkten Monarchie als Ehrgeiz,<lb/>
in der Volksherrſchaft als Unabhängigkeitsſinn, in Erbſtaaten<lb/>
mit Volksvertretung als Eiferſucht und Mißtrauen; in der<lb/>
Despotie endlich ſittliche Verworfenheit und Feigheit.</p><lb/><noteplace="end"n="1)">Die Literatur über die Verſchiedenheit der Staatsarten iſt ſehr groß.<lb/>
Man ſehe z. B.: <hirendition="#g">Heeren</hi>, Ideen über Politik, 2. Aufl., Bd. <hirendition="#aq">I,</hi> S. 978 fg.<lb/>—<hirendition="#g">Schleiermacher</hi>, Ueber die Begriffe der verſchiedenen Staatsformen<lb/>
(Abhandl. der Berl. Akad., 1814). —<hirendition="#g">Welker</hi>, Letzte Gründe. —<hirendition="#g">Duden</hi>,<lb/>
Verſchiedenheit der Staaten. — Grundſätze und Anſichten über Staatsformen<lb/>
und deren Ableitung aus dem Weſen des Staates ſelbſt. Leipzig, 1832. —<lb/><hirendition="#g">Leo</hi>, H., Naturlehre des Staates. Halle, 1833. —<hirendition="#g">Rohmer</hi>, Th., Die<lb/></note></div></div></div></body></text></TEI>
[103/0117]
verdreht worden. Ganz richtig iſt nun ohne Zweifel, daß jede
eigenthümliche Lebensanſchauung auch eine entſprechende Sinnes-
weiſe und vorherrſchende Neigungen und Leidenſchaften erzeugt;
ebenſo iſt unläugbar, daß ſich eine ſolche Geiſtesbeſchaffenheit
auch im Staatsleben geltend macht; und es iſt namentlich
Sache der Staatsklugheit, einen ſo bedeutenden Hebel in
jedem einzelnen Falle richtig zu erkennen und geſchickt anzu-
wenden; allein dieſe Gemüthsſtimmungen ſind nicht die Grund-
lagen, ſondern vielmehr die Folgen der weſentlichen Staaten-
verſchiedenheiten, ſie ſagen nichts aus über die zu löſenden
Aufgaben, und ſie begründen keine Rechte und Pflichten. Es
iſt ſomit eine Frage von nur untergeordnetem Intereſſe, ob
die angegebenen Geiſtesrichtungen wahr und ob ſie erſchöpfend
angegeben ſind. Im Uebrigen wäre es wohl am richtigſten,
als vorwiegende Stimmung im patriarchaliſchen Staate naive
Stammesliebe anzunehmen; im Patrimonialſtaate Feſthaltung
des individuellen Rechtes, verbunden mit kriegeriſchem Geiſte
in der beſonderen Form des Lehenſtaats; in der Theokratie
gläubige Frömmigkeit; im antiken Staate Gemeinſinn und
Aufopferungsfähigkeit; im Rechtsſtaate der Neuzeit vielſeitigen
Bildungstrieb, aber auch Selbſtſucht erlaubter und unſittlicher
Art, mit verſchiedenen Abſtufungen je nach den einzelnen
Formen, z. B. in der unbeſchränkten Monarchie als Ehrgeiz,
in der Volksherrſchaft als Unabhängigkeitsſinn, in Erbſtaaten
mit Volksvertretung als Eiferſucht und Mißtrauen; in der
Despotie endlich ſittliche Verworfenheit und Feigheit.
¹⁾ Die Literatur über die Verſchiedenheit der Staatsarten iſt ſehr groß.
Man ſehe z. B.: Heeren, Ideen über Politik, 2. Aufl., Bd. I, S. 978 fg.
— Schleiermacher, Ueber die Begriffe der verſchiedenen Staatsformen
(Abhandl. der Berl. Akad., 1814). — Welker, Letzte Gründe. — Duden,
Verſchiedenheit der Staaten. — Grundſätze und Anſichten über Staatsformen
und deren Ableitung aus dem Weſen des Staates ſelbſt. Leipzig, 1832. —
Leo, H., Naturlehre des Staates. Halle, 1833. — Rohmer, Th., Die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/117>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.