Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.Ueber die Absteuer der Töchter etc. Alle Theile wissen denn so viele Fälle anzuführen, vondemjenigen was diese oder jene bekommen hat; der Bru- der weiß denn so gewiß, daß die Absteuer seiner Geschwi- ster eine Ehrensache sey, und er, ohne sich verächtlich zu machen, die öffentliche Erwartung seines Standes nicht unbefriediget lassen dürfe, daß die Schiedsfreunde wenig Mühe haben können, den wahren Mittelweg zu treffen. Und fast möchte ich sagen, daß es allemal gemeinschäd- lich sey eine eigentliche Ehrensache in eine gesetzlich zu entscheidende Sache zu verwandeln. Mancher würde nach den Empfindungen seiner Ehre und seines Gewissens, oder nach den Verbindlichkeiten der natürlichen Gesetze vieles gethan haben, was er gewiß nicht thut, nachdem einmal der Streit dem Richter übergeben, und er nach den stren- gern Civilrechten frey gesprochen ist. Man sieht dieses täglich bey Testamenten, welche nicht alle Formalitäten haben. Die Canonisten glaubten, und wahrlich nicht ohne Grund, daß die Testamentsachen für den geistlichen Richter gehörten, der den Partheyen das Gewissen rügen könnte. Aber seit dem man solche für jeden Richter zie- hen kann, hält sich niemand zu etwas mehrern im Ge- wissen verbunden, als ihm dieser von Rechtswegen auf- legt. Der ganze Unterschied zwischen vollkommenen und unvollkommenen Verbindlichkeiten ist ausser alle Anwen- dung getreten; und man behauptet mit theoretischer Keck- heit, daß jeder Rechtsspruch auch das Gewissen beruhige. Dadurch aber wird die wahre edle Empfindung des Men- schen ungemein verenget; und die geitzige Schuldigkeit tritt in die Stelle der großmüthigen Ehre. Eben so wird es auch mit den Absteuren gehen, wenn der eine auf ei- nen Heller das Seinige zu fordern weiß, und der andre ihn als einen gemeinen überlästigen Gläubiger nach der Strenge Rechtens befriedigen muß. LIII.
Ueber die Abſteuer der Toͤchter ꝛc. Alle Theile wiſſen denn ſo viele Faͤlle anzufuͤhren, vondemjenigen was dieſe oder jene bekommen hat; der Bru- der weiß denn ſo gewiß, daß die Abſteuer ſeiner Geſchwi- ſter eine Ehrenſache ſey, und er, ohne ſich veraͤchtlich zu machen, die oͤffentliche Erwartung ſeines Standes nicht unbefriediget laſſen duͤrfe, daß die Schiedsfreunde wenig Muͤhe haben koͤnnen, den wahren Mittelweg zu treffen. Und faſt moͤchte ich ſagen, daß es allemal gemeinſchaͤd- lich ſey eine eigentliche Ehrenſache in eine geſetzlich zu entſcheidende Sache zu verwandeln. Mancher wuͤrde nach den Empfindungen ſeiner Ehre und ſeines Gewiſſens, oder nach den Verbindlichkeiten der natuͤrlichen Geſetze vieles gethan haben, was er gewiß nicht thut, nachdem einmal der Streit dem Richter uͤbergeben, und er nach den ſtren- gern Civilrechten frey geſprochen iſt. Man ſieht dieſes taͤglich bey Teſtamenten, welche nicht alle Formalitaͤten haben. Die Canoniſten glaubten, und wahrlich nicht ohne Grund, daß die Teſtamentſachen fuͤr den geiſtlichen Richter gehoͤrten, der den Partheyen das Gewiſſen ruͤgen koͤnnte. Aber ſeit dem man ſolche fuͤr jeden Richter zie- hen kann, haͤlt ſich niemand zu etwas mehrern im Ge- wiſſen verbunden, als ihm dieſer von Rechtswegen auf- legt. Der ganze Unterſchied zwiſchen vollkommenen und unvollkommenen Verbindlichkeiten iſt auſſer alle Anwen- dung getreten; und man behauptet mit theoretiſcher Keck- heit, daß jeder Rechtsſpruch auch das Gewiſſen beruhige. Dadurch aber wird die wahre edle Empfindung des Men- ſchen ungemein verenget; und die geitzige Schuldigkeit tritt in die Stelle der großmuͤthigen Ehre. Eben ſo wird es auch mit den Abſteuren gehen, wenn der eine auf ei- nen Heller das Seinige zu fordern weiß, und der andre ihn als einen gemeinen uͤberlaͤſtigen Glaͤubiger nach der Strenge Rechtens befriedigen muß. LIII.
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Ueber die Abſteuer der Toͤchter ꝛc.
Alle Theile wiſſen denn ſo viele Faͤlle anzufuͤhren, von
demjenigen was dieſe oder jene bekommen hat; der Bru-
der weiß denn ſo gewiß, daß die Abſteuer ſeiner Geſchwi-
ſter eine Ehrenſache ſey, und er, ohne ſich veraͤchtlich zu
machen, die oͤffentliche Erwartung ſeines Standes nicht
unbefriediget laſſen duͤrfe, daß die Schiedsfreunde wenig
Muͤhe haben koͤnnen, den wahren Mittelweg zu treffen.
Und faſt moͤchte ich ſagen, daß es allemal gemeinſchaͤd-
lich ſey eine eigentliche Ehrenſache in eine geſetzlich zu
entſcheidende Sache zu verwandeln. Mancher wuͤrde nach
den Empfindungen ſeiner Ehre und ſeines Gewiſſens, oder
nach den Verbindlichkeiten der natuͤrlichen Geſetze vieles
gethan haben, was er gewiß nicht thut, nachdem einmal
der Streit dem Richter uͤbergeben, und er nach den ſtren-
gern Civilrechten frey geſprochen iſt. Man ſieht dieſes
taͤglich bey Teſtamenten, welche nicht alle Formalitaͤten
haben. Die Canoniſten glaubten, und wahrlich nicht
ohne Grund, daß die Teſtamentſachen fuͤr den geiſtlichen
Richter gehoͤrten, der den Partheyen das Gewiſſen ruͤgen
koͤnnte. Aber ſeit dem man ſolche fuͤr jeden Richter zie-
hen kann, haͤlt ſich niemand zu etwas mehrern im Ge-
wiſſen verbunden, als ihm dieſer von Rechtswegen auf-
legt. Der ganze Unterſchied zwiſchen vollkommenen und
unvollkommenen Verbindlichkeiten iſt auſſer alle Anwen-
dung getreten; und man behauptet mit theoretiſcher Keck-
heit, daß jeder Rechtsſpruch auch das Gewiſſen beruhige.
Dadurch aber wird die wahre edle Empfindung des Men-
ſchen ungemein verenget; und die geitzige Schuldigkeit
tritt in die Stelle der großmuͤthigen Ehre. Eben ſo wird
es auch mit den Abſteuren gehen, wenn der eine auf ei-
nen Heller das Seinige zu fordern weiß, und der andre
ihn als einen gemeinen uͤberlaͤſtigen Glaͤubiger nach der
Strenge Rechtens befriedigen muß.
LIII.
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