Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

seiner Empfindungen gelange.
Sache einzudringen. So wie ich eine Lieferung auf das
Papier gebracht, und die Seele von ihrer ersten Last ent-
lediget habe, dehnt sie sich nach und nach weiter aus, und
gewinnet neue Aussichten, die zuerst noch von nähern
Bildern bedeckt wurden. Je weiter sie eindringt, und
jemehr sie entdeckt, desto feuriger und leidenschaftlicher
wird sie für ihren geliebten Gegenstand. Sie sieht
immer schönere Verhältnisse, fühlt sich leichter und freyer
zum Vergleichen, ist mit allen Theilen bekannt und ver-
traut, verweilet und gefällt sich in deren Betrachtung und
höret nicht eher auf, als bis sie gleichsam die letzte Gunst
erhalten hat.

Und nun, wenn ich so weit bin, womit insgemein
mehrere Tage und Nächte, Morgen- und Abendstunden
zugebracht sind, indem ich bey dem geringsten Anschein
von Erschlaffung die Feder niederlege, fang ich in der
Stunde des Berufs an, mein Geschriebenes nachzulesen,
und zu überdenken, wie ich meinen Vortrag einrichten
wolle. Fast immer hat sich während dieser Arbeit die
beste Art und Weise, wie die Sache vorgestellet seyn will,
von selbst entdeckt; oder wo ich hierüber noch nicht mit
mir einig werden kann: so lege ich mein Papier bey Seite
und erwarte eine glücklichere Stunde, die durchaus von
selbst kommen muß, und leicht kommt, nachdem man
einmal mit einer Wahrheit so vertraut geworden ist. Jst
aber die beste Art der Vorstellung, die immer nur ein-
zig ist, während der Arbeit aus der Sache hervorgegan-
gen: so fang ich allmählig an, alles was ich auf diese
Art meiner Seele abgewonnen habe, darnach zu ordnen,
was sich nicht dazu paßt, wegzustreichen, und jedes auf
seine Stelle zu bringen.

Jnsgemein fällt alles was ich zuerst niedergeschrie-
ben habe, ganz weg, oder es sind zerstreute Einheiten,

die
A 3

ſeiner Empfindungen gelange.
Sache einzudringen. So wie ich eine Lieferung auf das
Papier gebracht, und die Seele von ihrer erſten Laſt ent-
lediget habe, dehnt ſie ſich nach und nach weiter aus, und
gewinnet neue Ausſichten, die zuerſt noch von naͤhern
Bildern bedeckt wurden. Je weiter ſie eindringt, und
jemehr ſie entdeckt, deſto feuriger und leidenſchaftlicher
wird ſie fuͤr ihren geliebten Gegenſtand. Sie ſieht
immer ſchoͤnere Verhaͤltniſſe, fuͤhlt ſich leichter und freyer
zum Vergleichen, iſt mit allen Theilen bekannt und ver-
traut, verweilet und gefaͤllt ſich in deren Betrachtung und
hoͤret nicht eher auf, als bis ſie gleichſam die letzte Gunſt
erhalten hat.

Und nun, wenn ich ſo weit bin, womit insgemein
mehrere Tage und Naͤchte, Morgen- und Abendſtunden
zugebracht ſind, indem ich bey dem geringſten Anſchein
von Erſchlaffung die Feder niederlege, fang ich in der
Stunde des Berufs an, mein Geſchriebenes nachzuleſen,
und zu uͤberdenken, wie ich meinen Vortrag einrichten
wolle. Faſt immer hat ſich waͤhrend dieſer Arbeit die
beſte Art und Weiſe, wie die Sache vorgeſtellet ſeyn will,
von ſelbſt entdeckt; oder wo ich hieruͤber noch nicht mit
mir einig werden kann: ſo lege ich mein Papier bey Seite
und erwarte eine gluͤcklichere Stunde, die durchaus von
ſelbſt kommen muß, und leicht kommt, nachdem man
einmal mit einer Wahrheit ſo vertraut geworden iſt. Jſt
aber die beſte Art der Vorſtellung, die immer nur ein-
zig iſt, waͤhrend der Arbeit aus der Sache hervorgegan-
gen: ſo fang ich allmaͤhlig an, alles was ich auf dieſe
Art meiner Seele abgewonnen habe, darnach zu ordnen,
was ſich nicht dazu paßt, wegzuſtreichen, und jedes auf
ſeine Stelle zu bringen.

Jnsgemein faͤllt alles was ich zuerſt niedergeſchrie-
ben habe, ganz weg, oder es ſind zerſtreute Einheiten,

die
A 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0017" n="5"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">&#x017F;einer Empfindungen gelange.</hi></fw><lb/>
Sache einzudringen. So wie ich eine Lieferung auf das<lb/>
Papier gebracht, und die Seele von ihrer er&#x017F;ten La&#x017F;t ent-<lb/>
lediget habe, dehnt &#x017F;ie &#x017F;ich nach und nach weiter aus, und<lb/>
gewinnet neue Aus&#x017F;ichten, die zuer&#x017F;t noch von na&#x0364;hern<lb/>
Bildern bedeckt wurden. Je weiter &#x017F;ie eindringt, und<lb/>
jemehr &#x017F;ie entdeckt, de&#x017F;to feuriger und leiden&#x017F;chaftlicher<lb/>
wird &#x017F;ie fu&#x0364;r ihren geliebten Gegen&#x017F;tand. Sie &#x017F;ieht<lb/>
immer &#x017F;cho&#x0364;nere Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, fu&#x0364;hlt &#x017F;ich leichter und freyer<lb/>
zum Vergleichen, i&#x017F;t mit allen Theilen bekannt und ver-<lb/>
traut, verweilet und gefa&#x0364;llt &#x017F;ich in deren Betrachtung und<lb/>
ho&#x0364;ret nicht eher auf, als bis &#x017F;ie gleich&#x017F;am die letzte Gun&#x017F;t<lb/>
erhalten hat.</p><lb/>
          <p>Und nun, wenn ich &#x017F;o weit bin, womit insgemein<lb/>
mehrere Tage und Na&#x0364;chte, Morgen- und Abend&#x017F;tunden<lb/>
zugebracht &#x017F;ind, indem ich bey dem gering&#x017F;ten An&#x017F;chein<lb/>
von Er&#x017F;chlaffung die Feder niederlege, fang ich in der<lb/>
Stunde des Berufs an, mein Ge&#x017F;chriebenes nachzule&#x017F;en,<lb/>
und zu u&#x0364;berdenken, wie ich meinen Vortrag einrichten<lb/>
wolle. Fa&#x017F;t immer hat &#x017F;ich wa&#x0364;hrend die&#x017F;er Arbeit die<lb/>
be&#x017F;te Art und Wei&#x017F;e, wie die Sache vorge&#x017F;tellet &#x017F;eyn will,<lb/>
von &#x017F;elb&#x017F;t entdeckt; oder wo ich hieru&#x0364;ber noch nicht mit<lb/>
mir einig werden kann: &#x017F;o lege ich mein Papier bey Seite<lb/>
und erwarte eine glu&#x0364;cklichere Stunde, die durchaus von<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t kommen muß, und leicht kommt, nachdem man<lb/>
einmal mit einer Wahrheit &#x017F;o vertraut geworden i&#x017F;t. J&#x017F;t<lb/>
aber die be&#x017F;te Art der Vor&#x017F;tellung, die immer nur ein-<lb/>
zig i&#x017F;t, wa&#x0364;hrend der Arbeit aus der Sache hervorgegan-<lb/>
gen: &#x017F;o fang ich allma&#x0364;hlig an, alles was ich auf die&#x017F;e<lb/>
Art meiner Seele abgewonnen habe, darnach zu ordnen,<lb/>
was &#x017F;ich nicht dazu paßt, wegzu&#x017F;treichen, und jedes auf<lb/>
&#x017F;eine Stelle zu bringen.</p><lb/>
          <p>Jnsgemein fa&#x0364;llt alles was ich zuer&#x017F;t niederge&#x017F;chrie-<lb/>
ben habe, ganz weg, oder es &#x017F;ind zer&#x017F;treute Einheiten,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A 3</fw><fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0017] ſeiner Empfindungen gelange. Sache einzudringen. So wie ich eine Lieferung auf das Papier gebracht, und die Seele von ihrer erſten Laſt ent- lediget habe, dehnt ſie ſich nach und nach weiter aus, und gewinnet neue Ausſichten, die zuerſt noch von naͤhern Bildern bedeckt wurden. Je weiter ſie eindringt, und jemehr ſie entdeckt, deſto feuriger und leidenſchaftlicher wird ſie fuͤr ihren geliebten Gegenſtand. Sie ſieht immer ſchoͤnere Verhaͤltniſſe, fuͤhlt ſich leichter und freyer zum Vergleichen, iſt mit allen Theilen bekannt und ver- traut, verweilet und gefaͤllt ſich in deren Betrachtung und hoͤret nicht eher auf, als bis ſie gleichſam die letzte Gunſt erhalten hat. Und nun, wenn ich ſo weit bin, womit insgemein mehrere Tage und Naͤchte, Morgen- und Abendſtunden zugebracht ſind, indem ich bey dem geringſten Anſchein von Erſchlaffung die Feder niederlege, fang ich in der Stunde des Berufs an, mein Geſchriebenes nachzuleſen, und zu uͤberdenken, wie ich meinen Vortrag einrichten wolle. Faſt immer hat ſich waͤhrend dieſer Arbeit die beſte Art und Weiſe, wie die Sache vorgeſtellet ſeyn will, von ſelbſt entdeckt; oder wo ich hieruͤber noch nicht mit mir einig werden kann: ſo lege ich mein Papier bey Seite und erwarte eine gluͤcklichere Stunde, die durchaus von ſelbſt kommen muß, und leicht kommt, nachdem man einmal mit einer Wahrheit ſo vertraut geworden iſt. Jſt aber die beſte Art der Vorſtellung, die immer nur ein- zig iſt, waͤhrend der Arbeit aus der Sache hervorgegan- gen: ſo fang ich allmaͤhlig an, alles was ich auf dieſe Art meiner Seele abgewonnen habe, darnach zu ordnen, was ſich nicht dazu paßt, wegzuſtreichen, und jedes auf ſeine Stelle zu bringen. Jnsgemein faͤllt alles was ich zuerſt niedergeſchrie- ben habe, ganz weg, oder es ſind zerſtreute Einheiten, die A 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/17
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/17>, abgerufen am 28.03.2024.