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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.

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Ueber die Todesstrafen.
andern Gränzen *); und wie schwer es gehalten habe,
die Menschen von diesem Grundsatze abzubringen, legt
sich am mehrsten daraus zu Tage, daß fast kein einziger Ge-
setzgeber es gewagt, denselben gerade zu und auf einmal
umzustoßen, sondern überall zuerst gesucht, demselben
durch Anordnung gewisser Freyörter, wo der Verbre-
cher gegen seinen Verfolger sicher war, allmählig zu
schwächen.

Diesemnach scheint es, daß man die Vermuthung
für die Privatrache, welche noch jetzt in gewissen Fällen,
wo die Ehre eines Mannes beleidiget ist, aller Gesetzge-
bung und allen Strafen trotzt, fassen, und von der Obrig-
keit den Beweis fordern könne; wodurch sie sich berech-
tiget halte, gewisse Verbrecher beym Leben zu erhalten?

Diesen kann sie rechtlicher Art nach nicht anders
führen, als durch die darüber vorhandenen Gesetze, und
wo diese mit Bewilligung des Volks zur Erhaltung eines
Verbrechers gemacht sind, da ist dasselbe von dem ersten
Contrakt der Gesellschaft in so fern abgegangen, und die
Erhaltung beruhet auf einem richtigen Grunde. Wo
aber dieses nicht geschehen, wo nach den Gesetzen oder
dem zweyten Contrakt des Volks mit der Obrigkeit, jeder
Dieb gehangen werden muß; da kann man gar nicht fra-
gen, woher diese das Recht habe einen Dieb am Leben

zu
*) Es kommt zuletzt auf die Frage an: wie weit das jus primi
occupantis
gehe, und ob dieser nicht ein Recht habe, alle Thiere,
den Menschen mit eingeschlossen, welche ihn darin stören wol-
len über den Haufen zu schießen? Die Regel: Was du nicht
willst, das dir die Leute thun sollen, das thue ihnen auch
nicht, spricht hier für den occupantem; denn dieser kann sa-
gen, ich verlange nicht, daß man mir besser begegne, wenn
ich andre in ihrem Rechte kränke.
J 3

Ueber die Todesſtrafen.
andern Graͤnzen *); und wie ſchwer es gehalten habe,
die Menſchen von dieſem Grundſatze abzubringen, legt
ſich am mehrſten daraus zu Tage, daß faſt kein einziger Ge-
ſetzgeber es gewagt, denſelben gerade zu und auf einmal
umzuſtoßen, ſondern uͤberall zuerſt geſucht, demſelben
durch Anordnung gewiſſer Freyoͤrter, wo der Verbre-
cher gegen ſeinen Verfolger ſicher war, allmaͤhlig zu
ſchwaͤchen.

Dieſemnach ſcheint es, daß man die Vermuthung
fuͤr die Privatrache, welche noch jetzt in gewiſſen Faͤllen,
wo die Ehre eines Mannes beleidiget iſt, aller Geſetzge-
bung und allen Strafen trotzt, faſſen, und von der Obrig-
keit den Beweis fordern koͤnne; wodurch ſie ſich berech-
tiget halte, gewiſſe Verbrecher beym Leben zu erhalten?

Dieſen kann ſie rechtlicher Art nach nicht anders
fuͤhren, als durch die daruͤber vorhandenen Geſetze, und
wo dieſe mit Bewilligung des Volks zur Erhaltung eines
Verbrechers gemacht ſind, da iſt daſſelbe von dem erſten
Contrakt der Geſellſchaft in ſo fern abgegangen, und die
Erhaltung beruhet auf einem richtigen Grunde. Wo
aber dieſes nicht geſchehen, wo nach den Geſetzen oder
dem zweyten Contrakt des Volks mit der Obrigkeit, jeder
Dieb gehangen werden muß; da kann man gar nicht fra-
gen, woher dieſe das Recht habe einen Dieb am Leben

zu
*) Es kommt zuletzt auf die Frage an: wie weit das jus primi
occupantis
gehe, und ob dieſer nicht ein Recht habe, alle Thiere,
den Menſchen mit eingeſchloſſen, welche ihn darin ſtoͤren wol-
len uͤber den Haufen zu ſchießen? Die Regel: Was du nicht
willſt, das dir die Leute thun ſollen, das thue ihnen auch
nicht, ſpricht hier fuͤr den occupantem; denn dieſer kann ſa-
gen, ich verlange nicht, daß man mir beſſer begegne, wenn
ich andre in ihrem Rechte kraͤnke.
J 3
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[133/0145] Ueber die Todesſtrafen. andern Graͤnzen *); und wie ſchwer es gehalten habe, die Menſchen von dieſem Grundſatze abzubringen, legt ſich am mehrſten daraus zu Tage, daß faſt kein einziger Ge- ſetzgeber es gewagt, denſelben gerade zu und auf einmal umzuſtoßen, ſondern uͤberall zuerſt geſucht, demſelben durch Anordnung gewiſſer Freyoͤrter, wo der Verbre- cher gegen ſeinen Verfolger ſicher war, allmaͤhlig zu ſchwaͤchen. Dieſemnach ſcheint es, daß man die Vermuthung fuͤr die Privatrache, welche noch jetzt in gewiſſen Faͤllen, wo die Ehre eines Mannes beleidiget iſt, aller Geſetzge- bung und allen Strafen trotzt, faſſen, und von der Obrig- keit den Beweis fordern koͤnne; wodurch ſie ſich berech- tiget halte, gewiſſe Verbrecher beym Leben zu erhalten? Dieſen kann ſie rechtlicher Art nach nicht anders fuͤhren, als durch die daruͤber vorhandenen Geſetze, und wo dieſe mit Bewilligung des Volks zur Erhaltung eines Verbrechers gemacht ſind, da iſt daſſelbe von dem erſten Contrakt der Geſellſchaft in ſo fern abgegangen, und die Erhaltung beruhet auf einem richtigen Grunde. Wo aber dieſes nicht geſchehen, wo nach den Geſetzen oder dem zweyten Contrakt des Volks mit der Obrigkeit, jeder Dieb gehangen werden muß; da kann man gar nicht fra- gen, woher dieſe das Recht habe einen Dieb am Leben zu *) Es kommt zuletzt auf die Frage an: wie weit das jus primi occupantis gehe, und ob dieſer nicht ein Recht habe, alle Thiere, den Menſchen mit eingeſchloſſen, welche ihn darin ſtoͤren wol- len uͤber den Haufen zu ſchießen? Die Regel: Was du nicht willſt, das dir die Leute thun ſollen, das thue ihnen auch nicht, ſpricht hier fuͤr den occupantem; denn dieſer kann ſa- gen, ich verlange nicht, daß man mir beſſer begegne, wenn ich andre in ihrem Rechte kraͤnke. J 3

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/145>, abgerufen am 24.11.2024.