Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueber die verfeinerte Begriffe.
Sprache wird dadurch entweder zu scharf bestimmt oder zu
mannigfaltig, um sie zu seinen ordentlichen Bedürfnissen zu
gebrauchen. Es geht derselben wie unsern fünf Sinnen,
wenn sie schärfer empfinden, als es für unsre Gesundheit
und Bequemlichkeit gut ist. Das ganze Reich des Unendli-
chen, das vor unsre Sinnen versteckt liegt, ist überdem
das Feld der Speculation und Systeme. Jeder legt hier
sein eignes an, bestimmt darnach seine Worte, oder erfindet
für seine Hypothese besondre Zeichen, und wann die gemeine
Menschensprache damit überladen wird: so entsteht daraus
eben wie aus einer Menge zu vielerley Münzen, Beschwer-
de und Verwirrung; man unterscheidet, wo man nicht un-
terscheiden sollte, und wird spitzfindig anstatt brauchbar zu
werden; oder ein Mensch versteht den andern nicht mehr;
und unsrer jetzigen Sprache wird es wie der ehmaligen scho-
lastischen ergehen, die durch ihre Feinheit verunglückt ist,
oder sie wird der gothischen Schnitzeley ähnlich werden,
welche den Mangel der Grösse ersetzen sollte. Sehe ich nun
weiter auf die Menge derjenigen die in Raphaels Manier
arbeiten, ohne Raphaels Geist zu haben --

O! der Müller soll Recht haben, schloß mein Freund;
das Kreytau soll für die Kunstverständigen bleiben; wir
wollen uns an sein Mehl halten.



LIX.
Die Regeln behalten immer ihren grossen
Werth.

Eine Erzählung.

Vor einem gewissen westphälischen Dorfe stand eine hohe
Säule mit einer eisernen Hand, welche seit vielen
Jahren den rechten Weg in die Stadt gewiesen hatte. Ne-
ben derselben begegnete ein reise[n]der Seiltänzer dem Dorf-

schul-
R 2

Ueber die verfeinerte Begriffe.
Sprache wird dadurch entweder zu ſcharf beſtimmt oder zu
mannigfaltig, um ſie zu ſeinen ordentlichen Beduͤrfniſſen zu
gebrauchen. Es geht derſelben wie unſern fuͤnf Sinnen,
wenn ſie ſchaͤrfer empfinden, als es fuͤr unſre Geſundheit
und Bequemlichkeit gut iſt. Das ganze Reich des Unendli-
chen, das vor unſre Sinnen verſteckt liegt, iſt uͤberdem
das Feld der Speculation und Syſteme. Jeder legt hier
ſein eignes an, beſtimmt darnach ſeine Worte, oder erfindet
fuͤr ſeine Hypotheſe beſondre Zeichen, und wann die gemeine
Menſchenſprache damit uͤberladen wird: ſo entſteht daraus
eben wie aus einer Menge zu vielerley Muͤnzen, Beſchwer-
de und Verwirrung; man unterſcheidet, wo man nicht un-
terſcheiden ſollte, und wird ſpitzfindig anſtatt brauchbar zu
werden; oder ein Menſch verſteht den andern nicht mehr;
und unſrer jetzigen Sprache wird es wie der ehmaligen ſcho-
laſtiſchen ergehen, die durch ihre Feinheit verungluͤckt iſt,
oder ſie wird der gothiſchen Schnitzeley aͤhnlich werden,
welche den Mangel der Groͤſſe erſetzen ſollte. Sehe ich nun
weiter auf die Menge derjenigen die in Raphaels Manier
arbeiten, ohne Raphaels Geiſt zu haben —

O! der Muͤller ſoll Recht haben, ſchloß mein Freund;
das Kreytau ſoll fuͤr die Kunſtverſtaͤndigen bleiben; wir
wollen uns an ſein Mehl halten.



LIX.
Die Regeln behalten immer ihren groſſen
Werth.

Eine Erzaͤhlung.

Vor einem gewiſſen weſtphaͤliſchen Dorfe ſtand eine hohe
Saͤule mit einer eiſernen Hand, welche ſeit vielen
Jahren den rechten Weg in die Stadt gewieſen hatte. Ne-
ben derſelben begegnete ein reiſe[n]der Seiltaͤnzer dem Dorf-

ſchul-
R 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0273" n="259"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ueber die verfeinerte Begriffe.</hi></fw><lb/>
Sprache wird dadurch entweder zu &#x017F;charf be&#x017F;timmt oder zu<lb/>
mannigfaltig, um &#x017F;ie zu &#x017F;einen ordentlichen Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;en zu<lb/>
gebrauchen. Es geht der&#x017F;elben wie un&#x017F;ern fu&#x0364;nf Sinnen,<lb/>
wenn &#x017F;ie &#x017F;cha&#x0364;rfer empfinden, als es fu&#x0364;r un&#x017F;re Ge&#x017F;undheit<lb/>
und Bequemlichkeit gut i&#x017F;t. Das ganze Reich des Unendli-<lb/>
chen, das vor un&#x017F;re Sinnen ver&#x017F;teckt liegt, i&#x017F;t u&#x0364;berdem<lb/>
das Feld der Speculation und Sy&#x017F;teme. Jeder legt hier<lb/>
&#x017F;ein eignes an, be&#x017F;timmt darnach &#x017F;eine Worte, oder erfindet<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;eine Hypothe&#x017F;e be&#x017F;ondre Zeichen, und wann die gemeine<lb/>
Men&#x017F;chen&#x017F;prache damit u&#x0364;berladen wird: &#x017F;o ent&#x017F;teht daraus<lb/>
eben wie aus einer Menge zu vielerley Mu&#x0364;nzen, Be&#x017F;chwer-<lb/>
de und Verwirrung; man unter&#x017F;cheidet, wo man nicht un-<lb/>
ter&#x017F;cheiden &#x017F;ollte, und wird &#x017F;pitzfindig an&#x017F;tatt brauchbar zu<lb/>
werden; oder ein Men&#x017F;ch ver&#x017F;teht den andern nicht mehr;<lb/>
und un&#x017F;rer jetzigen Sprache wird es wie der ehmaligen &#x017F;cho-<lb/>
la&#x017F;ti&#x017F;chen ergehen, die durch ihre Feinheit verunglu&#x0364;ckt i&#x017F;t,<lb/>
oder &#x017F;ie wird der gothi&#x017F;chen Schnitzeley a&#x0364;hnlich werden,<lb/>
welche den Mangel der Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e er&#x017F;etzen &#x017F;ollte. Sehe ich nun<lb/>
weiter auf die Menge derjenigen die in Raphaels Manier<lb/>
arbeiten, ohne Raphaels Gei&#x017F;t zu haben &#x2014;</p><lb/>
        <p>O! der Mu&#x0364;ller &#x017F;oll Recht haben, &#x017F;chloß mein Freund;<lb/>
das <hi rendition="#fr">Kreytau</hi> &#x017F;oll fu&#x0364;r die Kun&#x017F;tver&#x017F;ta&#x0364;ndigen bleiben; wir<lb/>
wollen uns an &#x017F;ein Mehl halten.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">LIX.</hi><lb/>
Die Regeln behalten immer ihren gro&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Werth.</hi><lb/><hi rendition="#g">Eine Erza&#x0364;hlung</hi>.</head><lb/>
        <p>Vor einem gewi&#x017F;&#x017F;en we&#x017F;tpha&#x0364;li&#x017F;chen Dorfe &#x017F;tand eine hohe<lb/>
Sa&#x0364;ule mit einer ei&#x017F;ernen Hand, welche &#x017F;eit vielen<lb/>
Jahren den rechten Weg in die Stadt gewie&#x017F;en hatte. Ne-<lb/>
ben der&#x017F;elben begegnete ein rei&#x017F;e<supplied>n</supplied>der Seilta&#x0364;nzer dem Dorf-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chul-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[259/0273] Ueber die verfeinerte Begriffe. Sprache wird dadurch entweder zu ſcharf beſtimmt oder zu mannigfaltig, um ſie zu ſeinen ordentlichen Beduͤrfniſſen zu gebrauchen. Es geht derſelben wie unſern fuͤnf Sinnen, wenn ſie ſchaͤrfer empfinden, als es fuͤr unſre Geſundheit und Bequemlichkeit gut iſt. Das ganze Reich des Unendli- chen, das vor unſre Sinnen verſteckt liegt, iſt uͤberdem das Feld der Speculation und Syſteme. Jeder legt hier ſein eignes an, beſtimmt darnach ſeine Worte, oder erfindet fuͤr ſeine Hypotheſe beſondre Zeichen, und wann die gemeine Menſchenſprache damit uͤberladen wird: ſo entſteht daraus eben wie aus einer Menge zu vielerley Muͤnzen, Beſchwer- de und Verwirrung; man unterſcheidet, wo man nicht un- terſcheiden ſollte, und wird ſpitzfindig anſtatt brauchbar zu werden; oder ein Menſch verſteht den andern nicht mehr; und unſrer jetzigen Sprache wird es wie der ehmaligen ſcho- laſtiſchen ergehen, die durch ihre Feinheit verungluͤckt iſt, oder ſie wird der gothiſchen Schnitzeley aͤhnlich werden, welche den Mangel der Groͤſſe erſetzen ſollte. Sehe ich nun weiter auf die Menge derjenigen die in Raphaels Manier arbeiten, ohne Raphaels Geiſt zu haben — O! der Muͤller ſoll Recht haben, ſchloß mein Freund; das Kreytau ſoll fuͤr die Kunſtverſtaͤndigen bleiben; wir wollen uns an ſein Mehl halten. LIX. Die Regeln behalten immer ihren groſſen Werth. Eine Erzaͤhlung. Vor einem gewiſſen weſtphaͤliſchen Dorfe ſtand eine hohe Saͤule mit einer eiſernen Hand, welche ſeit vielen Jahren den rechten Weg in die Stadt gewieſen hatte. Ne- ben derſelben begegnete ein reiſender Seiltaͤnzer dem Dorf- ſchul- R 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/273
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/273>, abgerufen am 18.12.2024.