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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

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Der erste Jahreswechsel.
mit der ganzen Natur einzuschlafen, um nie wieder zu er-
wachen; aber der Hunger verstattete ihnen auch diese letzte
Ruhe nicht. Sie musten wider ihren Willen die Rinde
von dem Laube ihrer Hütte nagen, Wurzeln unter sich her-
vor wühlen, und den Schnee auflecken. Eva fühlte dann
und wann noch ein Herz unter dem ihrigen schlagen; sollte
dieses, sagte sie zu Adam, wohl das Kind seyn, was ich
mit Schmerzen gebähren soll? sollte dieses wohl noch kom-
men, um unser Elend zu vermehren, und mit uns zu ver-
hungern?

Bey dieser und andern dergleichen traurigen Anmer-
kungen glaubte Adam zum erstenmale die Sonne wieder zu
sehen; der Schnee vor der Hütte war dünner geworden,
und er versuchte es, sich durch denselben mehr Licht zu ver-
schaffen. Allein er konnte sie nicht entdecken. Des an-
dern Tages hoffete er wiederum, und der erste Stral fiel
in seine Hütte; doch war dieses noch ein schwacher Trost,
indem alles um ihn herum noch immer tod blieb. Nach und
nach aber merkte er, daß der Stral höher herabfiel, und
mehrere Wärme mit sich brachte. Er maß ihn einen Tag
und alle Tage, und fand alle Morgen mit einer Freude,
die sich nicht ausdrücken läßt, daß er immer etwas höher
fiel. Der Schnee fieng jetzt an zu schmelzen, und einige
Mücken tanzten vor dem Loche der Hütte. Siehst du, sagte
Eva, das Leben kommt wieder in die Natur, und wir
werden nicht sterben. In dem Augenblick flog auch ein
Vogel bey ihrer Hütte vorüber, und jeder Morgen zeigte
ihnen nun einen neuen Gegenstand, der sie entzückte und
begeisterte. Alle Geschöpfe sangen, hüpften und brüteten
Leben; alles was Odem hatte im Walde und auf dem Ge-
filde frohlockte, und die leblose Natur fühlte den lebendigen
Geist der Schöpfung. Auch Eva brachte im Mayen den
Erstling ihrer Liebe, und sahe nach überstandnem Schmerze

ihren

Der erſte Jahreswechſel.
mit der ganzen Natur einzuſchlafen, um nie wieder zu er-
wachen; aber der Hunger verſtattete ihnen auch dieſe letzte
Ruhe nicht. Sie muſten wider ihren Willen die Rinde
von dem Laube ihrer Huͤtte nagen, Wurzeln unter ſich her-
vor wuͤhlen, und den Schnee auflecken. Eva fuͤhlte dann
und wann noch ein Herz unter dem ihrigen ſchlagen; ſollte
dieſes, ſagte ſie zu Adam, wohl das Kind ſeyn, was ich
mit Schmerzen gebaͤhren ſoll? ſollte dieſes wohl noch kom-
men, um unſer Elend zu vermehren, und mit uns zu ver-
hungern?

Bey dieſer und andern dergleichen traurigen Anmer-
kungen glaubte Adam zum erſtenmale die Sonne wieder zu
ſehen; der Schnee vor der Huͤtte war duͤnner geworden,
und er verſuchte es, ſich durch denſelben mehr Licht zu ver-
ſchaffen. Allein er konnte ſie nicht entdecken. Des an-
dern Tages hoffete er wiederum, und der erſte Stral fiel
in ſeine Huͤtte; doch war dieſes noch ein ſchwacher Troſt,
indem alles um ihn herum noch immer tod blieb. Nach und
nach aber merkte er, daß der Stral hoͤher herabfiel, und
mehrere Waͤrme mit ſich brachte. Er maß ihn einen Tag
und alle Tage, und fand alle Morgen mit einer Freude,
die ſich nicht ausdruͤcken laͤßt, daß er immer etwas hoͤher
fiel. Der Schnee fieng jetzt an zu ſchmelzen, und einige
Muͤcken tanzten vor dem Loche der Huͤtte. Siehſt du, ſagte
Eva, das Leben kommt wieder in die Natur, und wir
werden nicht ſterben. In dem Augenblick flog auch ein
Vogel bey ihrer Huͤtte voruͤber, und jeder Morgen zeigte
ihnen nun einen neuen Gegenſtand, der ſie entzuͤckte und
begeiſterte. Alle Geſchoͤpfe ſangen, huͤpften und bruͤteten
Leben; alles was Odem hatte im Walde und auf dem Ge-
filde frohlockte, und die lebloſe Natur fuͤhlte den lebendigen
Geiſt der Schoͤpfung. Auch Eva brachte im Mayen den
Erſtling ihrer Liebe, und ſahe nach uͤberſtandnem Schmerze

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[152/0166] Der erſte Jahreswechſel. mit der ganzen Natur einzuſchlafen, um nie wieder zu er- wachen; aber der Hunger verſtattete ihnen auch dieſe letzte Ruhe nicht. Sie muſten wider ihren Willen die Rinde von dem Laube ihrer Huͤtte nagen, Wurzeln unter ſich her- vor wuͤhlen, und den Schnee auflecken. Eva fuͤhlte dann und wann noch ein Herz unter dem ihrigen ſchlagen; ſollte dieſes, ſagte ſie zu Adam, wohl das Kind ſeyn, was ich mit Schmerzen gebaͤhren ſoll? ſollte dieſes wohl noch kom- men, um unſer Elend zu vermehren, und mit uns zu ver- hungern? Bey dieſer und andern dergleichen traurigen Anmer- kungen glaubte Adam zum erſtenmale die Sonne wieder zu ſehen; der Schnee vor der Huͤtte war duͤnner geworden, und er verſuchte es, ſich durch denſelben mehr Licht zu ver- ſchaffen. Allein er konnte ſie nicht entdecken. Des an- dern Tages hoffete er wiederum, und der erſte Stral fiel in ſeine Huͤtte; doch war dieſes noch ein ſchwacher Troſt, indem alles um ihn herum noch immer tod blieb. Nach und nach aber merkte er, daß der Stral hoͤher herabfiel, und mehrere Waͤrme mit ſich brachte. Er maß ihn einen Tag und alle Tage, und fand alle Morgen mit einer Freude, die ſich nicht ausdruͤcken laͤßt, daß er immer etwas hoͤher fiel. Der Schnee fieng jetzt an zu ſchmelzen, und einige Muͤcken tanzten vor dem Loche der Huͤtte. Siehſt du, ſagte Eva, das Leben kommt wieder in die Natur, und wir werden nicht ſterben. In dem Augenblick flog auch ein Vogel bey ihrer Huͤtte voruͤber, und jeder Morgen zeigte ihnen nun einen neuen Gegenſtand, der ſie entzuͤckte und begeiſterte. Alle Geſchoͤpfe ſangen, huͤpften und bruͤteten Leben; alles was Odem hatte im Walde und auf dem Ge- filde frohlockte, und die lebloſe Natur fuͤhlte den lebendigen Geiſt der Schoͤpfung. Auch Eva brachte im Mayen den Erſtling ihrer Liebe, und ſahe nach uͤberſtandnem Schmerze ihren

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/166>, abgerufen am 26.04.2024.