Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Also soll man das Studiren
und arbeitsamsten Männer gezogen werden. Aus den so-
genannten Kindern von guter Familie, kommen jetzt fast
nichts als Zärtlinge oder Hypochondristen, die, wenn es
zum Hauptwerke kommt, gemeiniglich in der Cur begrif-
fen sind, und Ew. Durchlaucht mögen sicher glauben, daß
in der Welt unendlich mehr durch Dauer, Fleiß und Ar-
beit, als durch das sogenannte Genie bewürket werde.
Hiernächst können Höchstdieselbe nicht selbst untersuchen, ob
dieser oder jener Knabe Anlage zum Studiren habe; und
wenn diese Untersuchung einem Bedienten überlassen wird,
so kann man sicher voraussetzen, daß er, wenn auch gleich
Geld und Gaben nichts über ihn vermögen, dennoch ge-
gen Freundschaften und Verbindungen nicht unempfindlich
seyn werde. Und wie weit hat mancher eiserner Kopf, der
in der Jugend wenig versprach, den lebhaften, witzigen
und geistvollen Knaben, von dem man alles hoffte, hinter
sich zurück gelassen? wie viele Keime entwickeln sich erst
spät? und wie viele Beyspiele könnte ich anführen, daß
aus launigten, eigenwilligen, und dem Anschein nach un-
gelehrigen Köpfen, gerade die Böcke geworden sind, worauf
das ganze Gerüste einer Staatsverfassung geruhet hat*)?

Aber so sage er mir doch nur ein Mittel ...

Meiner Meynung nach, gnädigster Herr, liegt der
Fehler darinn, daß die wenigsten Eltern mit ihren Kindern
bis ins vierzehnte Jahr was anzufangen wissen, und sie in
die lateinische Schule schicken, um sie nur vom Müßiggan-
ge abzuhalten. Sie sehen die Schulen wie einen Nothstall

an,
*) De dix ensans de neuf ans, voues a differentes voeations, je
voudrois que celui qu' on voue aux Sciences fut le moins Sca-
vant: a douze ans Pascal et Neuton ne savoient point encore
le latin. Tissot de la sante des gens de lettre.
So richtig der-
gleichen einzelne Fälle sind, so wenig darf man sie doch zur Re-
gel machen.

Alſo ſoll man das Studiren
und arbeitſamſten Maͤnner gezogen werden. Aus den ſo-
genannten Kindern von guter Familie, kommen jetzt faſt
nichts als Zaͤrtlinge oder Hypochondriſten, die, wenn es
zum Hauptwerke kommt, gemeiniglich in der Cur begrif-
fen ſind, und Ew. Durchlaucht moͤgen ſicher glauben, daß
in der Welt unendlich mehr durch Dauer, Fleiß und Ar-
beit, als durch das ſogenannte Genie bewuͤrket werde.
Hiernaͤchſt koͤnnen Hoͤchſtdieſelbe nicht ſelbſt unterſuchen, ob
dieſer oder jener Knabe Anlage zum Studiren habe; und
wenn dieſe Unterſuchung einem Bedienten uͤberlaſſen wird,
ſo kann man ſicher vorausſetzen, daß er, wenn auch gleich
Geld und Gaben nichts uͤber ihn vermoͤgen, dennoch ge-
gen Freundſchaften und Verbindungen nicht unempfindlich
ſeyn werde. Und wie weit hat mancher eiſerner Kopf, der
in der Jugend wenig verſprach, den lebhaften, witzigen
und geiſtvollen Knaben, von dem man alles hoffte, hinter
ſich zuruͤck gelaſſen? wie viele Keime entwickeln ſich erſt
ſpaͤt? und wie viele Beyſpiele koͤnnte ich anfuͤhren, daß
aus launigten, eigenwilligen, und dem Anſchein nach un-
gelehrigen Koͤpfen, gerade die Boͤcke geworden ſind, worauf
das ganze Geruͤſte einer Staatsverfaſſung geruhet hat*)?

Aber ſo ſage er mir doch nur ein Mittel …

Meiner Meynung nach, gnaͤdigſter Herr, liegt der
Fehler darinn, daß die wenigſten Eltern mit ihren Kindern
bis ins vierzehnte Jahr was anzufangen wiſſen, und ſie in
die lateiniſche Schule ſchicken, um ſie nur vom Muͤßiggan-
ge abzuhalten. Sie ſehen die Schulen wie einen Nothſtall

an,
*) De dix enſans de neuf ans, voués à differentes voeations, je
voudrois que celui qu’ on voue aux Sciences fut le moins Sca-
vant: à douze ans Paſcal et Neuton ne ſavoient point encore
le latin. Tiſſot de la ſanté des gens de lettre.
So richtig der-
gleichen einzelne Faͤlle ſind, ſo wenig darf man ſie doch zur Re-
gel machen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0142" n="128"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Al&#x017F;o &#x017F;oll man das Studiren</hi></fw><lb/>
und arbeit&#x017F;am&#x017F;ten Ma&#x0364;nner gezogen werden. Aus den &#x017F;o-<lb/>
genannten Kindern von guter Familie, kommen jetzt fa&#x017F;t<lb/>
nichts als Za&#x0364;rtlinge oder Hypochondri&#x017F;ten, die, wenn es<lb/>
zum Hauptwerke kommt, gemeiniglich in der Cur begrif-<lb/>
fen &#x017F;ind, und Ew. Durchlaucht mo&#x0364;gen &#x017F;icher glauben, daß<lb/>
in der Welt unendlich mehr durch Dauer, Fleiß und Ar-<lb/>
beit, als durch das &#x017F;ogenannte Genie bewu&#x0364;rket werde.<lb/>
Hierna&#x0364;ch&#x017F;t ko&#x0364;nnen Ho&#x0364;ch&#x017F;tdie&#x017F;elbe nicht &#x017F;elb&#x017F;t unter&#x017F;uchen, ob<lb/>
die&#x017F;er oder jener Knabe Anlage zum Studiren habe; und<lb/>
wenn die&#x017F;e Unter&#x017F;uchung einem Bedienten u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en wird,<lb/>
&#x017F;o kann man &#x017F;icher voraus&#x017F;etzen, daß er, wenn auch gleich<lb/>
Geld und Gaben nichts u&#x0364;ber ihn vermo&#x0364;gen, dennoch ge-<lb/>
gen Freund&#x017F;chaften und Verbindungen nicht unempfindlich<lb/>
&#x017F;eyn werde. Und wie weit hat mancher ei&#x017F;erner Kopf, der<lb/>
in der Jugend wenig ver&#x017F;prach, den lebhaften, witzigen<lb/>
und gei&#x017F;tvollen Knaben, von dem man alles hoffte, hinter<lb/>
&#x017F;ich zuru&#x0364;ck gela&#x017F;&#x017F;en? wie viele Keime entwickeln &#x017F;ich er&#x017F;t<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;t? und wie viele Bey&#x017F;piele ko&#x0364;nnte ich anfu&#x0364;hren, daß<lb/>
aus launigten, eigenwilligen, und dem An&#x017F;chein nach un-<lb/>
gelehrigen Ko&#x0364;pfen, gerade die Bo&#x0364;cke geworden &#x017F;ind, worauf<lb/>
das ganze Geru&#x0364;&#x017F;te einer Staatsverfa&#x017F;&#x017F;ung geruhet hat<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">De dix en&#x017F;ans de neuf ans, voués à differentes voeations, je<lb/>
voudrois que celui qu&#x2019; on voue aux Sciences fut le moins Sca-<lb/>
vant: à douze ans Pa&#x017F;cal et Neuton ne &#x017F;avoient point encore<lb/>
le latin. <hi rendition="#i">Ti&#x017F;&#x017F;ot</hi> de la &#x017F;anté des gens de lettre.</hi> So richtig der-<lb/>
gleichen einzelne Fa&#x0364;lle &#x017F;ind, &#x017F;o wenig darf man &#x017F;ie doch zur Re-<lb/>
gel machen.</note>?</p><lb/>
        <p> <hi rendition="#c">Aber &#x017F;o &#x017F;age er mir doch nur ein Mittel &#x2026;</hi> </p><lb/>
        <p>Meiner Meynung nach, gna&#x0364;dig&#x017F;ter Herr, liegt der<lb/>
Fehler darinn, daß die wenig&#x017F;ten Eltern mit ihren Kindern<lb/>
bis ins vierzehnte Jahr was anzufangen wi&#x017F;&#x017F;en, und &#x017F;ie in<lb/>
die lateini&#x017F;che Schule &#x017F;chicken, um &#x017F;ie nur vom Mu&#x0364;ßiggan-<lb/>
ge abzuhalten. Sie &#x017F;ehen die Schulen wie einen Noth&#x017F;tall<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">an,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[128/0142] Alſo ſoll man das Studiren und arbeitſamſten Maͤnner gezogen werden. Aus den ſo- genannten Kindern von guter Familie, kommen jetzt faſt nichts als Zaͤrtlinge oder Hypochondriſten, die, wenn es zum Hauptwerke kommt, gemeiniglich in der Cur begrif- fen ſind, und Ew. Durchlaucht moͤgen ſicher glauben, daß in der Welt unendlich mehr durch Dauer, Fleiß und Ar- beit, als durch das ſogenannte Genie bewuͤrket werde. Hiernaͤchſt koͤnnen Hoͤchſtdieſelbe nicht ſelbſt unterſuchen, ob dieſer oder jener Knabe Anlage zum Studiren habe; und wenn dieſe Unterſuchung einem Bedienten uͤberlaſſen wird, ſo kann man ſicher vorausſetzen, daß er, wenn auch gleich Geld und Gaben nichts uͤber ihn vermoͤgen, dennoch ge- gen Freundſchaften und Verbindungen nicht unempfindlich ſeyn werde. Und wie weit hat mancher eiſerner Kopf, der in der Jugend wenig verſprach, den lebhaften, witzigen und geiſtvollen Knaben, von dem man alles hoffte, hinter ſich zuruͤck gelaſſen? wie viele Keime entwickeln ſich erſt ſpaͤt? und wie viele Beyſpiele koͤnnte ich anfuͤhren, daß aus launigten, eigenwilligen, und dem Anſchein nach un- gelehrigen Koͤpfen, gerade die Boͤcke geworden ſind, worauf das ganze Geruͤſte einer Staatsverfaſſung geruhet hat *)? Aber ſo ſage er mir doch nur ein Mittel … Meiner Meynung nach, gnaͤdigſter Herr, liegt der Fehler darinn, daß die wenigſten Eltern mit ihren Kindern bis ins vierzehnte Jahr was anzufangen wiſſen, und ſie in die lateiniſche Schule ſchicken, um ſie nur vom Muͤßiggan- ge abzuhalten. Sie ſehen die Schulen wie einen Nothſtall an, *) De dix enſans de neuf ans, voués à differentes voeations, je voudrois que celui qu’ on voue aux Sciences fut le moins Sca- vant: à douze ans Paſcal et Neuton ne ſavoient point encore le latin. Tiſſot de la ſanté des gens de lettre. So richtig der- gleichen einzelne Faͤlle ſind, ſo wenig darf man ſie doch zur Re- gel machen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/142
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/142>, abgerufen am 24.11.2024.