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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

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Die moralische Vortheile
sorge wird schlaff, und alles geht so gleichgültig wohl, daß
auch selbst das größte Genie nur halb entwickelt wird.

Allein wenn die Noth herein bricht; wenn die Gefahr Hel-
den fordert, und ein allgemeiner Ruf den Geist aufbietet;
wenn der Staat mit seinem Untergange kämpft; wenn die Ge-
fahr desselben sich mit jedem versäumten Augenblicke verstärkt;
wenn die schrecklichste Entscheidung nur mit der großen Auf-
opferung abgewandt werden kan: Dann zeigt sich alles würk-
sam und groß; der Redner wird mächtig, das Genie übertrift
seine eigene Hoffnungen; Muth und Dauer begeistern den
Freund; Herz und Hand öffnen sich mit gleicher Fertigkeit.
Ausführungen folgen auf Entwürfe, und die Seele erstaunet
über ihre eignen Kräfte. Sie findet in sich unbekannte Tu-
genden, erhebt sich und findet neue, und entdeckt auf ihrer
Höhe die erweiterten Gränzen ihrer Pflichten. Die vorhin
in ihrer Ruhe angebeteten Größen verschwinden unter ihrem
Fluge, und der Mensch zeigt sich als ein der Gottheit würdi-
ges Geschöpf.

Wie mancher Saame der Tugend käme vielleicht nie zum
keimen; und wie weniger zur Reife, wenn Noth und Unglück
nicht wären? Wie vielen hat der Anblick eines abgezehrten
Armen ihr eignes Herz bekannt gemacht? Und wie manchen
Armen hat nicht der Hunger mit Gefühl, Dankbarkeit und
Begierde zur Arbeit beseelt, wovon er vorhin nur schwache
Anfälle hatte? Sollten nicht auch viele unsrer Landleute den
Werth der Mäßigkeit und Sparsamkeit besser als vorhin ein-
gesehn, und manche eine Menge von Sachen zu entbehren ge-
lernt haben, welche ihnen sonst durchaus nothwendig schienen?
Ich erwehne jetzt nichts von dem politischen Nutzen der Land-
plagen; er wird zu einer andern Betrachtung führen.

Wie

Die moraliſche Vortheile
ſorge wird ſchlaff, und alles geht ſo gleichguͤltig wohl, daß
auch ſelbſt das groͤßte Genie nur halb entwickelt wird.

Allein wenn die Noth herein bricht; wenn die Gefahr Hel-
den fordert, und ein allgemeiner Ruf den Geiſt aufbietet;
wenn der Staat mit ſeinem Untergange kaͤmpft; wenn die Ge-
fahr deſſelben ſich mit jedem verſaͤumten Augenblicke verſtaͤrkt;
wenn die ſchrecklichſte Entſcheidung nur mit der großen Auf-
opferung abgewandt werden kan: Dann zeigt ſich alles wuͤrk-
ſam und groß; der Redner wird maͤchtig, das Genie uͤbertrift
ſeine eigene Hoffnungen; Muth und Dauer begeiſtern den
Freund; Herz und Hand oͤffnen ſich mit gleicher Fertigkeit.
Ausfuͤhrungen folgen auf Entwuͤrfe, und die Seele erſtaunet
uͤber ihre eignen Kraͤfte. Sie findet in ſich unbekannte Tu-
genden, erhebt ſich und findet neue, und entdeckt auf ihrer
Hoͤhe die erweiterten Graͤnzen ihrer Pflichten. Die vorhin
in ihrer Ruhe angebeteten Groͤßen verſchwinden unter ihrem
Fluge, und der Menſch zeigt ſich als ein der Gottheit wuͤrdi-
ges Geſchoͤpf.

Wie mancher Saame der Tugend kaͤme vielleicht nie zum
keimen; und wie weniger zur Reife, wenn Noth und Ungluͤck
nicht waͤren? Wie vielen hat der Anblick eines abgezehrten
Armen ihr eignes Herz bekannt gemacht? Und wie manchen
Armen hat nicht der Hunger mit Gefuͤhl, Dankbarkeit und
Begierde zur Arbeit beſeelt, wovon er vorhin nur ſchwache
Anfaͤlle hatte? Sollten nicht auch viele unſrer Landleute den
Werth der Maͤßigkeit und Sparſamkeit beſſer als vorhin ein-
geſehn, und manche eine Menge von Sachen zu entbehren ge-
lernt haben, welche ihnen ſonſt durchaus nothwendig ſchienen?
Ich erwehne jetzt nichts von dem politiſchen Nutzen der Land-
plagen; er wird zu einer andern Betrachtung fuͤhren.

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[36/0054] Die moraliſche Vortheile ſorge wird ſchlaff, und alles geht ſo gleichguͤltig wohl, daß auch ſelbſt das groͤßte Genie nur halb entwickelt wird. Allein wenn die Noth herein bricht; wenn die Gefahr Hel- den fordert, und ein allgemeiner Ruf den Geiſt aufbietet; wenn der Staat mit ſeinem Untergange kaͤmpft; wenn die Ge- fahr deſſelben ſich mit jedem verſaͤumten Augenblicke verſtaͤrkt; wenn die ſchrecklichſte Entſcheidung nur mit der großen Auf- opferung abgewandt werden kan: Dann zeigt ſich alles wuͤrk- ſam und groß; der Redner wird maͤchtig, das Genie uͤbertrift ſeine eigene Hoffnungen; Muth und Dauer begeiſtern den Freund; Herz und Hand oͤffnen ſich mit gleicher Fertigkeit. Ausfuͤhrungen folgen auf Entwuͤrfe, und die Seele erſtaunet uͤber ihre eignen Kraͤfte. Sie findet in ſich unbekannte Tu- genden, erhebt ſich und findet neue, und entdeckt auf ihrer Hoͤhe die erweiterten Graͤnzen ihrer Pflichten. Die vorhin in ihrer Ruhe angebeteten Groͤßen verſchwinden unter ihrem Fluge, und der Menſch zeigt ſich als ein der Gottheit wuͤrdi- ges Geſchoͤpf. Wie mancher Saame der Tugend kaͤme vielleicht nie zum keimen; und wie weniger zur Reife, wenn Noth und Ungluͤck nicht waͤren? Wie vielen hat der Anblick eines abgezehrten Armen ihr eignes Herz bekannt gemacht? Und wie manchen Armen hat nicht der Hunger mit Gefuͤhl, Dankbarkeit und Begierde zur Arbeit beſeelt, wovon er vorhin nur ſchwache Anfaͤlle hatte? Sollten nicht auch viele unſrer Landleute den Werth der Maͤßigkeit und Sparſamkeit beſſer als vorhin ein- geſehn, und manche eine Menge von Sachen zu entbehren ge- lernt haben, welche ihnen ſonſt durchaus nothwendig ſchienen? Ich erwehne jetzt nichts von dem politiſchen Nutzen der Land- plagen; er wird zu einer andern Betrachtung fuͤhren. Wie

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/54>, abgerufen am 21.11.2024.