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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

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Eine Hypothese zur bessern Anfkläruug
sich mit Gelde lösen zu können, gleich es denn überhaupt schei-
net, daß nur diejenigen dazu gelassen wurden, welche geflüch-
tet waren, oder sich auf die Seite gemacht hatten, und nicht
wieder zurückgekommen seyn würden, wenn man ihnen nicht
ein sicheres Geleit und die Lösung des Verbrechens zugestan-
den haben würde. Die Gesetze hatten jedoch das Flüchten
begünstiget, und überal Freystätte, Friedensorte und heilige
Säulen angelegt, wohin dem Uebelthäter so wenig der Richter
als der Rächer folgen durfte, um den ersten die gesetzmäßige
Wohlthat des Lösegeldes zu verschaffen. Daß nun aber der
Graf einen überwundenen und ihm eingelieferten Verbrecher
mit der Leib- und Lebensstrafe belegen konnte, war eine so
große Sache nicht. Diejenigen, so ihn ergriffen und über-
wunden hatten, wären befugt gewesen, sich selbst Recht zu
schaffen. Lieferten sie ihn statt dessen nun dem Richter: so
hatte er nicht viel zu urtheilen, sondern eigentlich nur die ihm
aufgetragene Privatrache zu vollziehen; er liehe gleichsam das
Schwerdt der Gerechtigkeit oder seinen Henker, denen, die
um sicher zu gehen, ihr eigen Schwerdt nicht brauchen und
das Henkeramt nicht selbst übernehmen wollten.

Nach dieser Voraussetzung sieht man nun leicht ein, daß

Erstlich des Grafen Blutrichteramt nach dem Verhält-
niß abnehmen mußte, als durch den Verfall der Münze, durch
die Vermehrung des Geldes, und durch die anwachsende
Menge unangesessener und flüchtiger Menschen, anstatt des
Lösegeldes fast lauter Leib- und Lebensstrafen eingeführet wer-
den mußten; ferner

Zweytens, daß dagegen das Ansehen des Sendgrafen nach
dem Maaße steigen mußte, als er jeden Verbrecher an Haut
und Haar verfolgen konnte, ohne zu erwarten, ob derselbe sich

vor

Eine Hypotheſe zur beſſern Anfklaͤruug
ſich mit Gelde loͤſen zu koͤnnen, gleich es denn uͤberhaupt ſchei-
net, daß nur diejenigen dazu gelaſſen wurden, welche gefluͤch-
tet waren, oder ſich auf die Seite gemacht hatten, und nicht
wieder zuruͤckgekommen ſeyn wuͤrden, wenn man ihnen nicht
ein ſicheres Geleit und die Loͤſung des Verbrechens zugeſtan-
den haben wuͤrde. Die Geſetze hatten jedoch das Fluͤchten
beguͤnſtiget, und uͤberal Freyſtaͤtte, Friedensorte und heilige
Saͤulen angelegt, wohin dem Uebelthaͤter ſo wenig der Richter
als der Raͤcher folgen durfte, um den erſten die geſetzmaͤßige
Wohlthat des Loͤſegeldes zu verſchaffen. Daß nun aber der
Graf einen uͤberwundenen und ihm eingelieferten Verbrecher
mit der Leib- und Lebensſtrafe belegen konnte, war eine ſo
große Sache nicht. Diejenigen, ſo ihn ergriffen und uͤber-
wunden hatten, waͤren befugt geweſen, ſich ſelbſt Recht zu
ſchaffen. Lieferten ſie ihn ſtatt deſſen nun dem Richter: ſo
hatte er nicht viel zu urtheilen, ſondern eigentlich nur die ihm
aufgetragene Privatrache zu vollziehen; er liehe gleichſam das
Schwerdt der Gerechtigkeit oder ſeinen Henker, denen, die
um ſicher zu gehen, ihr eigen Schwerdt nicht brauchen und
das Henkeramt nicht ſelbſt uͤbernehmen wollten.

Nach dieſer Vorausſetzung ſieht man nun leicht ein, daß

Erſtlich des Grafen Blutrichteramt nach dem Verhaͤlt-
niß abnehmen mußte, als durch den Verfall der Muͤnze, durch
die Vermehrung des Geldes, und durch die anwachſende
Menge unangeſeſſener und fluͤchtiger Menſchen, anſtatt des
Loͤſegeldes faſt lauter Leib- und Lebensſtrafen eingefuͤhret wer-
den mußten; ferner

Zweytens, daß dagegen das Anſehen des Sendgrafen nach
dem Maaße ſteigen mußte, als er jeden Verbrecher an Haut
und Haar verfolgen konnte, ohne zu erwarten, ob derſelbe ſich

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[474/0492] Eine Hypotheſe zur beſſern Anfklaͤruug ſich mit Gelde loͤſen zu koͤnnen, gleich es denn uͤberhaupt ſchei- net, daß nur diejenigen dazu gelaſſen wurden, welche gefluͤch- tet waren, oder ſich auf die Seite gemacht hatten, und nicht wieder zuruͤckgekommen ſeyn wuͤrden, wenn man ihnen nicht ein ſicheres Geleit und die Loͤſung des Verbrechens zugeſtan- den haben wuͤrde. Die Geſetze hatten jedoch das Fluͤchten beguͤnſtiget, und uͤberal Freyſtaͤtte, Friedensorte und heilige Saͤulen angelegt, wohin dem Uebelthaͤter ſo wenig der Richter als der Raͤcher folgen durfte, um den erſten die geſetzmaͤßige Wohlthat des Loͤſegeldes zu verſchaffen. Daß nun aber der Graf einen uͤberwundenen und ihm eingelieferten Verbrecher mit der Leib- und Lebensſtrafe belegen konnte, war eine ſo große Sache nicht. Diejenigen, ſo ihn ergriffen und uͤber- wunden hatten, waͤren befugt geweſen, ſich ſelbſt Recht zu ſchaffen. Lieferten ſie ihn ſtatt deſſen nun dem Richter: ſo hatte er nicht viel zu urtheilen, ſondern eigentlich nur die ihm aufgetragene Privatrache zu vollziehen; er liehe gleichſam das Schwerdt der Gerechtigkeit oder ſeinen Henker, denen, die um ſicher zu gehen, ihr eigen Schwerdt nicht brauchen und das Henkeramt nicht ſelbſt uͤbernehmen wollten. Nach dieſer Vorausſetzung ſieht man nun leicht ein, daß Erſtlich des Grafen Blutrichteramt nach dem Verhaͤlt- niß abnehmen mußte, als durch den Verfall der Muͤnze, durch die Vermehrung des Geldes, und durch die anwachſende Menge unangeſeſſener und fluͤchtiger Menſchen, anſtatt des Loͤſegeldes faſt lauter Leib- und Lebensſtrafen eingefuͤhret wer- den mußten; ferner Zweytens, daß dagegen das Anſehen des Sendgrafen nach dem Maaße ſteigen mußte, als er jeden Verbrecher an Haut und Haar verfolgen konnte, ohne zu erwarten, ob derſelbe ſich vor

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/492>, abgerufen am 22.11.2024.