XXXXVIII. Schreiben einer betagten Jungfer an den Stifter der Wittwencasse zu ****
O mein Herr, Sie haben es nie empfunden, was es für eine grausame Sache für ein lediges und betagtes Frauenzimmer sey, von der Gnade seiner Verwandten ab- zuhangen; wie erschrecklich es sey, den Stolz und die Ver- achtung kleiner naseweisen Niecen mit Freundlichkeit zu er- wiedern; was die ungesitteten Spöttereyen und die hämischen Anmerkungen aufgeschossener Vettern für nagende Wunden in ein empfindliches Herz schlagen; und wie sauer es einem werde, jeden geringen Dienst von einem durch solche Exempel verhetzten und boshaften Gesinde zu erkaufen; sonst würden Sie für ein bejahrtes lediges Frauenzimmer eben so gut wie für hübsche junge Wittwen gesorget haben.
Ich bin jetzt 58 Jahr alt; und die Frau Oberamtmännin bey deren Kinder ich die Stelle einer Tante Lore, oder wenn Sie den rechten Namen wissen wollen, einer Kinderwärterin vertrete, ist meines seligen Brudern Tochter. Hier bin ich der tägliche Spott von sechs verzogenen Kindern, und diese Ehre muß ich gegen ihre stolze Mutter, die ich, Gott er- barme es! von den Windeln an gewartet habe, mit unter- thänigen Dank erkennen, weil ich meine besten Jahre in mei- nes Brudern Haushaltung aufgeopfert, und da ich nicht für Geld gedienet, auch nichts erübriget, und keine Hoffnung habe, von Fremden, denen ich nicht mehr nütze werden kan, aufgenommen zu werden. Eine grausamere Situation für ein empfindliches Frauenzimmer ist schwerlich zu gedenken.
Oft
Schreiben einer betagten Jungfer
XXXXVIII. Schreiben einer betagten Jungfer an den Stifter der Wittwencaſſe zu ****
O mein Herr, Sie haben es nie empfunden, was es fuͤr eine grauſame Sache fuͤr ein lediges und betagtes Frauenzimmer ſey, von der Gnade ſeiner Verwandten ab- zuhangen; wie erſchrecklich es ſey, den Stolz und die Ver- achtung kleiner naſeweiſen Niecen mit Freundlichkeit zu er- wiedern; was die ungeſitteten Spoͤttereyen und die haͤmiſchen Anmerkungen aufgeſchoſſener Vettern fuͤr nagende Wunden in ein empfindliches Herz ſchlagen; und wie ſauer es einem werde, jeden geringen Dienſt von einem durch ſolche Exempel verhetzten und boshaften Geſinde zu erkaufen; ſonſt wuͤrden Sie fuͤr ein bejahrtes lediges Frauenzimmer eben ſo gut wie fuͤr huͤbſche junge Wittwen geſorget haben.
Ich bin jetzt 58 Jahr alt; und die Frau Oberamtmaͤnnin bey deren Kinder ich die Stelle einer Tante Lore, oder wenn Sie den rechten Namen wiſſen wollen, einer Kinderwaͤrterin vertrete, iſt meines ſeligen Brudern Tochter. Hier bin ich der taͤgliche Spott von ſechs verzogenen Kindern, und dieſe Ehre muß ich gegen ihre ſtolze Mutter, die ich, Gott er- barme es! von den Windeln an gewartet habe, mit unter- thaͤnigen Dank erkennen, weil ich meine beſten Jahre in mei- nes Brudern Haushaltung aufgeopfert, und da ich nicht fuͤr Geld gedienet, auch nichts eruͤbriget, und keine Hoffnung habe, von Fremden, denen ich nicht mehr nuͤtze werden kan, aufgenommen zu werden. Eine grauſamere Situation fuͤr ein empfindliches Frauenzimmer iſt ſchwerlich zu gedenken.
Oft
<TEI><text><body><pbfacs="#f0330"n="312"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Schreiben einer betagten Jungfer</hi></fw><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XXXXVIII.</hi><lb/>
Schreiben einer betagten Jungfer an den<lb/>
Stifter der Wittwencaſſe zu ****</hi></head><lb/><p>O mein Herr, Sie haben es nie empfunden, was es<lb/>
fuͤr eine grauſame Sache fuͤr ein lediges und betagtes<lb/>
Frauenzimmer ſey, von der Gnade ſeiner Verwandten ab-<lb/>
zuhangen; wie erſchrecklich es ſey, den Stolz und die Ver-<lb/>
achtung kleiner naſeweiſen Niecen mit Freundlichkeit zu er-<lb/>
wiedern; was die ungeſitteten Spoͤttereyen und die haͤmiſchen<lb/>
Anmerkungen aufgeſchoſſener Vettern fuͤr nagende Wunden in<lb/>
ein empfindliches Herz ſchlagen; und wie ſauer es einem<lb/>
werde, jeden geringen Dienſt von einem durch ſolche Exempel<lb/>
verhetzten und boshaften Geſinde zu erkaufen; ſonſt wuͤrden<lb/>
Sie fuͤr ein bejahrtes lediges Frauenzimmer eben ſo gut wie<lb/>
fuͤr huͤbſche junge Wittwen geſorget haben.</p><lb/><p>Ich bin jetzt 58 Jahr alt; und die Frau Oberamtmaͤnnin<lb/>
bey deren Kinder ich die Stelle einer Tante Lore, oder wenn<lb/>
Sie den rechten Namen wiſſen wollen, einer Kinderwaͤrterin<lb/>
vertrete, iſt meines ſeligen Brudern Tochter. Hier bin ich<lb/>
der taͤgliche Spott von ſechs verzogenen Kindern, und dieſe<lb/>
Ehre muß ich gegen ihre ſtolze Mutter, die ich, Gott er-<lb/>
barme es! von den Windeln an gewartet habe, mit unter-<lb/>
thaͤnigen Dank erkennen, weil ich meine beſten Jahre in mei-<lb/>
nes Brudern Haushaltung aufgeopfert, und da ich nicht fuͤr<lb/>
Geld gedienet, auch nichts eruͤbriget, und keine Hoffnung<lb/>
habe, von Fremden, denen ich nicht mehr nuͤtze werden kan,<lb/>
aufgenommen zu werden. Eine grauſamere Situation fuͤr<lb/>
ein empfindliches Frauenzimmer iſt ſchwerlich zu gedenken.<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Oft</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[312/0330]
Schreiben einer betagten Jungfer
XXXXVIII.
Schreiben einer betagten Jungfer an den
Stifter der Wittwencaſſe zu ****
O mein Herr, Sie haben es nie empfunden, was es
fuͤr eine grauſame Sache fuͤr ein lediges und betagtes
Frauenzimmer ſey, von der Gnade ſeiner Verwandten ab-
zuhangen; wie erſchrecklich es ſey, den Stolz und die Ver-
achtung kleiner naſeweiſen Niecen mit Freundlichkeit zu er-
wiedern; was die ungeſitteten Spoͤttereyen und die haͤmiſchen
Anmerkungen aufgeſchoſſener Vettern fuͤr nagende Wunden in
ein empfindliches Herz ſchlagen; und wie ſauer es einem
werde, jeden geringen Dienſt von einem durch ſolche Exempel
verhetzten und boshaften Geſinde zu erkaufen; ſonſt wuͤrden
Sie fuͤr ein bejahrtes lediges Frauenzimmer eben ſo gut wie
fuͤr huͤbſche junge Wittwen geſorget haben.
Ich bin jetzt 58 Jahr alt; und die Frau Oberamtmaͤnnin
bey deren Kinder ich die Stelle einer Tante Lore, oder wenn
Sie den rechten Namen wiſſen wollen, einer Kinderwaͤrterin
vertrete, iſt meines ſeligen Brudern Tochter. Hier bin ich
der taͤgliche Spott von ſechs verzogenen Kindern, und dieſe
Ehre muß ich gegen ihre ſtolze Mutter, die ich, Gott er-
barme es! von den Windeln an gewartet habe, mit unter-
thaͤnigen Dank erkennen, weil ich meine beſten Jahre in mei-
nes Brudern Haushaltung aufgeopfert, und da ich nicht fuͤr
Geld gedienet, auch nichts eruͤbriget, und keine Hoffnung
habe, von Fremden, denen ich nicht mehr nuͤtze werden kan,
aufgenommen zu werden. Eine grauſamere Situation fuͤr
ein empfindliches Frauenzimmer iſt ſchwerlich zu gedenken.
Oft
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/330>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.