Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

Reicher Leute Kinder
den Vortheil zu beweisen? Ich denke er müsse einem jeden
selbst einleuchten. Doch ein Exempel wird allemal noch gern
angehört. Nicht leicht ist ein Ort zur Lohgerberey besser ge-
legen, als die hiesige Stadt; und wenn wir wollen, so müssen
alle Häute aus Ostfriesland sich zu uns ziehen. Das hiesige
Lohgerberamt hat Proben seiner Erfahrung und Geschicklich-
keit gegeben. Es ist stark und reich gewesen, und noch jetzt
in ziemlichen Ansehen, wiewohl es nach und nach immer
mehr abnimmt, weil unsre Krämer sich ein Geschäfte daraus
machen allerley fremdes Leder einzuführen. Worinn steckt
aber die wahre Ursache des Verfalls? Darinn, daß jeder Loh-
gerber nicht einige tausend Thaler im Vermögen hat?

Von dem englischen Leder sagt man, daß sechs Jahre
darüber hingehen, ehe eine rohe Haut gar und zeitig werde.
Vielleicht ist hier etwas übertrieben. Aber wahrscheinlich ist
es, daß alle Häute, wenn sie drey Jahre zu ihrer Gare und
Reife haben, unendlich schöner, dauerhafter und edler werden
als sie im ersten und andern Jahre sind. Wenn nun unsre
Lohgerber ein solches Capital hätten, um alle Häute, welche
jährlich in Ostfriesland und hiesigen Gegenden fallen, anzu-
kaufen, und solche die gehörige Zeit von Jahren über reifen
lassen zu können, würde sodenn nicht die hiesige Zubereitung
der englischen und Brabändischen gleich, und der Vortheil so
viel größer seyn? Ein Lohgerber, der seine Felle unter zwölf
Monaten losschlagen muß, gewinnet vielleicht kaum 4 p. C.
und wer sie drey Jahre liegen lassen kann, nicht unter 30.
Von denen die ihm den größten Vortheil geben, wird er ge-
segnet, von dem Taglöhner hingegen, dem seine Schuh von
halbgaren Leder im ersten Regen zerfliessen, ohne Vortheil
verdammet.

Ich betrachte die Sache jetzt nicht von ihrer edelsten
Seite: sondern nur von derjenigen, welche auch dem ge-

mein-

Reicher Leute Kinder
den Vortheil zu beweiſen? Ich denke er muͤſſe einem jeden
ſelbſt einleuchten. Doch ein Exempel wird allemal noch gern
angehoͤrt. Nicht leicht iſt ein Ort zur Lohgerberey beſſer ge-
legen, als die hieſige Stadt; und wenn wir wollen, ſo muͤſſen
alle Haͤute aus Oſtfriesland ſich zu uns ziehen. Das hieſige
Lohgerberamt hat Proben ſeiner Erfahrung und Geſchicklich-
keit gegeben. Es iſt ſtark und reich geweſen, und noch jetzt
in ziemlichen Anſehen, wiewohl es nach und nach immer
mehr abnimmt, weil unſre Kraͤmer ſich ein Geſchaͤfte daraus
machen allerley fremdes Leder einzufuͤhren. Worinn ſteckt
aber die wahre Urſache des Verfalls? Darinn, daß jeder Loh-
gerber nicht einige tauſend Thaler im Vermoͤgen hat?

Von dem engliſchen Leder ſagt man, daß ſechs Jahre
daruͤber hingehen, ehe eine rohe Haut gar und zeitig werde.
Vielleicht iſt hier etwas uͤbertrieben. Aber wahrſcheinlich iſt
es, daß alle Haͤute, wenn ſie drey Jahre zu ihrer Gare und
Reife haben, unendlich ſchoͤner, dauerhafter und edler werden
als ſie im erſten und andern Jahre ſind. Wenn nun unſre
Lohgerber ein ſolches Capital haͤtten, um alle Haͤute, welche
jaͤhrlich in Oſtfriesland und hieſigen Gegenden fallen, anzu-
kaufen, und ſolche die gehoͤrige Zeit von Jahren uͤber reifen
laſſen zu koͤnnen, wuͤrde ſodenn nicht die hieſige Zubereitung
der engliſchen und Brabaͤndiſchen gleich, und der Vortheil ſo
viel groͤßer ſeyn? Ein Lohgerber, der ſeine Felle unter zwoͤlf
Monaten losſchlagen muß, gewinnet vielleicht kaum 4 p. C.
und wer ſie drey Jahre liegen laſſen kann, nicht unter 30.
Von denen die ihm den groͤßten Vortheil geben, wird er ge-
ſegnet, von dem Tagloͤhner hingegen, dem ſeine Schuh von
halbgaren Leder im erſten Regen zerflieſſen, ohne Vortheil
verdammet.

Ich betrachte die Sache jetzt nicht von ihrer edelſten
Seite: ſondern nur von derjenigen, welche auch dem ge-

mein-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0054" n="36"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Reicher Leute Kinder</hi></fw><lb/>
den Vortheil zu bewei&#x017F;en? Ich denke er mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e einem jeden<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t einleuchten. Doch ein Exempel wird allemal noch gern<lb/>
angeho&#x0364;rt. Nicht leicht i&#x017F;t ein Ort zur Lohgerberey be&#x017F;&#x017F;er ge-<lb/>
legen, als die hie&#x017F;ige Stadt; und wenn wir wollen, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
alle Ha&#x0364;ute aus O&#x017F;tfriesland &#x017F;ich zu uns ziehen. Das hie&#x017F;ige<lb/>
Lohgerberamt hat Proben &#x017F;einer Erfahrung und Ge&#x017F;chicklich-<lb/>
keit gegeben. Es i&#x017F;t &#x017F;tark und reich gewe&#x017F;en, und noch jetzt<lb/>
in ziemlichen An&#x017F;ehen, wiewohl es nach und nach immer<lb/>
mehr abnimmt, weil un&#x017F;re Kra&#x0364;mer &#x017F;ich ein Ge&#x017F;cha&#x0364;fte daraus<lb/>
machen allerley fremdes Leder einzufu&#x0364;hren. Worinn &#x017F;teckt<lb/>
aber die wahre Ur&#x017F;ache des Verfalls? Darinn, daß jeder Loh-<lb/>
gerber nicht einige tau&#x017F;end Thaler im Vermo&#x0364;gen hat?</p><lb/>
        <p>Von dem engli&#x017F;chen Leder &#x017F;agt man, daß &#x017F;echs Jahre<lb/>
daru&#x0364;ber hingehen, ehe eine rohe Haut gar und zeitig werde.<lb/>
Vielleicht i&#x017F;t hier etwas u&#x0364;bertrieben. Aber wahr&#x017F;cheinlich i&#x017F;t<lb/>
es, daß alle Ha&#x0364;ute, wenn &#x017F;ie drey Jahre zu ihrer Gare und<lb/>
Reife haben, unendlich &#x017F;cho&#x0364;ner, dauerhafter und edler werden<lb/>
als &#x017F;ie im er&#x017F;ten und andern Jahre &#x017F;ind. Wenn nun un&#x017F;re<lb/>
Lohgerber ein &#x017F;olches Capital ha&#x0364;tten, um alle Ha&#x0364;ute, welche<lb/>
ja&#x0364;hrlich in O&#x017F;tfriesland und hie&#x017F;igen Gegenden fallen, anzu-<lb/>
kaufen, und &#x017F;olche die geho&#x0364;rige Zeit von Jahren u&#x0364;ber reifen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en zu ko&#x0364;nnen, wu&#x0364;rde &#x017F;odenn nicht die hie&#x017F;ige Zubereitung<lb/>
der engli&#x017F;chen und Braba&#x0364;ndi&#x017F;chen gleich, und der Vortheil &#x017F;o<lb/>
viel gro&#x0364;ßer &#x017F;eyn? Ein Lohgerber, der &#x017F;eine Felle unter zwo&#x0364;lf<lb/>
Monaten los&#x017F;chlagen muß, gewinnet vielleicht kaum 4 p. C.<lb/>
und wer &#x017F;ie drey Jahre liegen la&#x017F;&#x017F;en kann, nicht unter 30.<lb/>
Von denen die ihm den gro&#x0364;ßten Vortheil geben, wird er ge-<lb/>
&#x017F;egnet, von dem Taglo&#x0364;hner hingegen, dem &#x017F;eine Schuh von<lb/>
halbgaren Leder im er&#x017F;ten Regen zerflie&#x017F;&#x017F;en, ohne Vortheil<lb/>
verdammet.</p><lb/>
        <p>Ich betrachte die Sache jetzt nicht von ihrer edel&#x017F;ten<lb/>
Seite: &#x017F;ondern nur von derjenigen, welche auch dem ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mein-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0054] Reicher Leute Kinder den Vortheil zu beweiſen? Ich denke er muͤſſe einem jeden ſelbſt einleuchten. Doch ein Exempel wird allemal noch gern angehoͤrt. Nicht leicht iſt ein Ort zur Lohgerberey beſſer ge- legen, als die hieſige Stadt; und wenn wir wollen, ſo muͤſſen alle Haͤute aus Oſtfriesland ſich zu uns ziehen. Das hieſige Lohgerberamt hat Proben ſeiner Erfahrung und Geſchicklich- keit gegeben. Es iſt ſtark und reich geweſen, und noch jetzt in ziemlichen Anſehen, wiewohl es nach und nach immer mehr abnimmt, weil unſre Kraͤmer ſich ein Geſchaͤfte daraus machen allerley fremdes Leder einzufuͤhren. Worinn ſteckt aber die wahre Urſache des Verfalls? Darinn, daß jeder Loh- gerber nicht einige tauſend Thaler im Vermoͤgen hat? Von dem engliſchen Leder ſagt man, daß ſechs Jahre daruͤber hingehen, ehe eine rohe Haut gar und zeitig werde. Vielleicht iſt hier etwas uͤbertrieben. Aber wahrſcheinlich iſt es, daß alle Haͤute, wenn ſie drey Jahre zu ihrer Gare und Reife haben, unendlich ſchoͤner, dauerhafter und edler werden als ſie im erſten und andern Jahre ſind. Wenn nun unſre Lohgerber ein ſolches Capital haͤtten, um alle Haͤute, welche jaͤhrlich in Oſtfriesland und hieſigen Gegenden fallen, anzu- kaufen, und ſolche die gehoͤrige Zeit von Jahren uͤber reifen laſſen zu koͤnnen, wuͤrde ſodenn nicht die hieſige Zubereitung der engliſchen und Brabaͤndiſchen gleich, und der Vortheil ſo viel groͤßer ſeyn? Ein Lohgerber, der ſeine Felle unter zwoͤlf Monaten losſchlagen muß, gewinnet vielleicht kaum 4 p. C. und wer ſie drey Jahre liegen laſſen kann, nicht unter 30. Von denen die ihm den groͤßten Vortheil geben, wird er ge- ſegnet, von dem Tagloͤhner hingegen, dem ſeine Schuh von halbgaren Leder im erſten Regen zerflieſſen, ohne Vortheil verdammet. Ich betrachte die Sache jetzt nicht von ihrer edelſten Seite: ſondern nur von derjenigen, welche auch dem ge- mein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/54
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/54>, abgerufen am 08.05.2024.