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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

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Gedanken über die vielen Lotterien.
leichtfertigen Gewinnsten hat sich über ganz Deutschland aus-
gebreitet, und kaum ist noch hie und da ein alter ehrlicher
Vater, dem die saure Frucht des Fleisses schmeckt, und der
sich an dem Abende seiner Tage durch die süsse Erinnerung
seiner überstandenen Mühseligkeiten erquickt. Wenn ehedem
eine Gesellschaft junger Waghälse dem Glücke mit stärkern
als gewöhnlichen Schritten nacheilen wollte: so übernahm sie
Bergwerke zu bauen, Canäle zu graben, Schiffe auszurü-
sten, und sich neue Quellen des Erwerbs und der Handlung
zu eröfnen. Allein jetzt will jeder plötzlich und leichtfertig reich
werden. Die Kriegeslieferungen und die glänzenden Halb-
metalle unser verschwundenen Münzen liegen den mehrsten
noch in Gedanken, und stören ihre Ruhe. Der Handwerks-
mann kann noch nicht wieder zu dem kleinen, öftern und dauer-
haften Gewinnst zurückkehren; er will doppelt und dreyfach
gewinnen. Der Landmann vertrinkt die Pfennige, so er für
Butter und Eyer einnimmt, und will sich noch nicht wieder
gewöhnen, aus vielen Hellern einen Thaler zu sammlen. Und
so scheinet ein allgemeiner Schwindelgeist alle Stände der
Menschen zu beherrschen.

Allein was thut ein Vater, wenn seine Töchter nicht
mehr ruhig schlafen wollen? Er giebt den lüsternen Mädgen
gute Männer, und macht sie zu fruchtbaren Müttern. Was
thut ein Landesvater, wenn seine Kinder zur Verschwendung
geneigt sind? Er leitet ihre Neigungen auf einheimische Pro-
dukte; verwandelt die Verschwender in Patrioten, und legt
selbst Lotterien an, wenn sie durchaus ihr Glück auf eine
plötzliche und schwermerische Art machen wollen. Laßt uns
also auch die Sache von dieser Seite betrachten. Laßt uns
annehmen, der Strom der Thorheit wolle sich in seinem star-
ken Laufe nicht aufhalten lassen; und so sey es der weisen und
aufmerksamen Politik gemäß, ihm diejenige Richtung zu ge-

ben,

Gedanken uͤber die vielen Lotterien.
leichtfertigen Gewinnſten hat ſich uͤber ganz Deutſchland aus-
gebreitet, und kaum iſt noch hie und da ein alter ehrlicher
Vater, dem die ſaure Frucht des Fleiſſes ſchmeckt, und der
ſich an dem Abende ſeiner Tage durch die ſuͤſſe Erinnerung
ſeiner uͤberſtandenen Muͤhſeligkeiten erquickt. Wenn ehedem
eine Geſellſchaft junger Waghaͤlſe dem Gluͤcke mit ſtaͤrkern
als gewoͤhnlichen Schritten nacheilen wollte: ſo uͤbernahm ſie
Bergwerke zu bauen, Canaͤle zu graben, Schiffe auszuruͤ-
ſten, und ſich neue Quellen des Erwerbs und der Handlung
zu eroͤfnen. Allein jetzt will jeder ploͤtzlich und leichtfertig reich
werden. Die Kriegeslieferungen und die glaͤnzenden Halb-
metalle unſer verſchwundenen Muͤnzen liegen den mehrſten
noch in Gedanken, und ſtoͤren ihre Ruhe. Der Handwerks-
mann kann noch nicht wieder zu dem kleinen, oͤftern und dauer-
haften Gewinnſt zuruͤckkehren; er will doppelt und dreyfach
gewinnen. Der Landmann vertrinkt die Pfennige, ſo er fuͤr
Butter und Eyer einnimmt, und will ſich noch nicht wieder
gewoͤhnen, aus vielen Hellern einen Thaler zu ſammlen. Und
ſo ſcheinet ein allgemeiner Schwindelgeiſt alle Staͤnde der
Menſchen zu beherrſchen.

Allein was thut ein Vater, wenn ſeine Toͤchter nicht
mehr ruhig ſchlafen wollen? Er giebt den luͤſternen Maͤdgen
gute Maͤnner, und macht ſie zu fruchtbaren Muͤttern. Was
thut ein Landesvater, wenn ſeine Kinder zur Verſchwendung
geneigt ſind? Er leitet ihre Neigungen auf einheimiſche Pro-
dukte; verwandelt die Verſchwender in Patrioten, und legt
ſelbſt Lotterien an, wenn ſie durchaus ihr Gluͤck auf eine
ploͤtzliche und ſchwermeriſche Art machen wollen. Laßt uns
alſo auch die Sache von dieſer Seite betrachten. Laßt uns
annehmen, der Strom der Thorheit wolle ſich in ſeinem ſtar-
ken Laufe nicht aufhalten laſſen; und ſo ſey es der weiſen und
aufmerkſamen Politik gemaͤß, ihm diejenige Richtung zu ge-

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[162/0180] Gedanken uͤber die vielen Lotterien. leichtfertigen Gewinnſten hat ſich uͤber ganz Deutſchland aus- gebreitet, und kaum iſt noch hie und da ein alter ehrlicher Vater, dem die ſaure Frucht des Fleiſſes ſchmeckt, und der ſich an dem Abende ſeiner Tage durch die ſuͤſſe Erinnerung ſeiner uͤberſtandenen Muͤhſeligkeiten erquickt. Wenn ehedem eine Geſellſchaft junger Waghaͤlſe dem Gluͤcke mit ſtaͤrkern als gewoͤhnlichen Schritten nacheilen wollte: ſo uͤbernahm ſie Bergwerke zu bauen, Canaͤle zu graben, Schiffe auszuruͤ- ſten, und ſich neue Quellen des Erwerbs und der Handlung zu eroͤfnen. Allein jetzt will jeder ploͤtzlich und leichtfertig reich werden. Die Kriegeslieferungen und die glaͤnzenden Halb- metalle unſer verſchwundenen Muͤnzen liegen den mehrſten noch in Gedanken, und ſtoͤren ihre Ruhe. Der Handwerks- mann kann noch nicht wieder zu dem kleinen, oͤftern und dauer- haften Gewinnſt zuruͤckkehren; er will doppelt und dreyfach gewinnen. Der Landmann vertrinkt die Pfennige, ſo er fuͤr Butter und Eyer einnimmt, und will ſich noch nicht wieder gewoͤhnen, aus vielen Hellern einen Thaler zu ſammlen. Und ſo ſcheinet ein allgemeiner Schwindelgeiſt alle Staͤnde der Menſchen zu beherrſchen. Allein was thut ein Vater, wenn ſeine Toͤchter nicht mehr ruhig ſchlafen wollen? Er giebt den luͤſternen Maͤdgen gute Maͤnner, und macht ſie zu fruchtbaren Muͤttern. Was thut ein Landesvater, wenn ſeine Kinder zur Verſchwendung geneigt ſind? Er leitet ihre Neigungen auf einheimiſche Pro- dukte; verwandelt die Verſchwender in Patrioten, und legt ſelbſt Lotterien an, wenn ſie durchaus ihr Gluͤck auf eine ploͤtzliche und ſchwermeriſche Art machen wollen. Laßt uns alſo auch die Sache von dieſer Seite betrachten. Laßt uns annehmen, der Strom der Thorheit wolle ſich in ſeinem ſtar- ken Laufe nicht aufhalten laſſen; und ſo ſey es der weiſen und aufmerkſamen Politik gemaͤß, ihm diejenige Richtung zu ge- ben,

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/180>, abgerufen am 23.11.2024.