schwesterlich geliebt sie sey. Leben Sie wohl, und denken gerne mein."
Ehe Theobald noch recht zu danken wußte, hatte sie sich bereits, ihre steigende Bewegung zu ver- bergen, leise zurückgezogen. Eilig ging er nach seiner Wohnung, auf's Höchste erstaunt über die räthselhaf- ten Dinge, die er so eben gehört. War es denn nicht, als sollte ihm ein Verbrechen Constanzens entdeckt werden? Sprach nicht die Gouvernantin so, als wüßte er bereits darum? -- Auf seinem Zimmer an- gekommen, verschloß er hinter sich die Thür und las wie folgt:
"Nicht einen lezten Blick der Neigung, kein Auge des Mitleids sollen Sie diesem Blatte gönnen, das von dem jammervollsten, ach zugleich von dem unwür- digsten Weibe kommt; denn (davon hatten Sie bis diesen Augenblick noch keine Ahnung) so wie mein Unglück, ist auch meine Schuld ohne Gränzen. Nie kann ich hoffen, Sie mir zu versöhnen, ja wäre das möglich, ich kann keine Vergebung, auf Ewig keine, von mir erhalten. Aber die Strafe, die ich schreck- lich genug im eigenen Bewußtseyn trage, bin ich im Begriff auf's Höchste zu schärfen, indem ich meinen Frevel vor Ihnen enthülle, indem ich freiwillig Ihre ganze Verachtung, Ihren gerechtesten Haß auf mich ziehe. Was hält mich ab vom entehrendsten Bekennt- niß? Ist man noch eitel, ist man noch klug, sucht man ängstlich noch einigen Schein für sich zu bewah-
ſchweſterlich geliebt ſie ſey. Leben Sie wohl, und denken gerne mein.“
Ehe Theobald noch recht zu danken wußte, hatte ſie ſich bereits, ihre ſteigende Bewegung zu ver- bergen, leiſe zurückgezogen. Eilig ging er nach ſeiner Wohnung, auf’s Höchſte erſtaunt über die räthſelhaf- ten Dinge, die er ſo eben gehört. War es denn nicht, als ſollte ihm ein Verbrechen Conſtanzens entdeckt werden? Sprach nicht die Gouvernantin ſo, als wüßte er bereits darum? — Auf ſeinem Zimmer an- gekommen, verſchloß er hinter ſich die Thür und las wie folgt:
„Nicht einen lezten Blick der Neigung, kein Auge des Mitleids ſollen Sie dieſem Blatte gönnen, das von dem jammervollſten, ach zugleich von dem unwür- digſten Weibe kommt; denn (davon hatten Sie bis dieſen Augenblick noch keine Ahnung) ſo wie mein Unglück, iſt auch meine Schuld ohne Gränzen. Nie kann ich hoffen, Sie mir zu verſöhnen, ja wäre das möglich, ich kann keine Vergebung, auf Ewig keine, von mir erhalten. Aber die Strafe, die ich ſchreck- lich genug im eigenen Bewußtſeyn trage, bin ich im Begriff auf’s Höchſte zu ſchärfen, indem ich meinen Frevel vor Ihnen enthülle, indem ich freiwillig Ihre ganze Verachtung, Ihren gerechteſten Haß auf mich ziehe. Was hält mich ab vom entehrendſten Bekennt- niß? Iſt man noch eitel, iſt man noch klug, ſucht man ängſtlich noch einigen Schein für ſich zu bewah-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0075"n="389"/>ſchweſterlich geliebt ſie ſey. Leben Sie wohl, und<lb/>
denken gerne mein.“</p><lb/><p>Ehe <hirendition="#g">Theobald</hi> noch recht zu danken wußte,<lb/>
hatte ſie ſich bereits, ihre ſteigende Bewegung zu ver-<lb/>
bergen, leiſe zurückgezogen. Eilig ging er nach ſeiner<lb/>
Wohnung, auf’s Höchſte erſtaunt über die räthſelhaf-<lb/>
ten Dinge, die er ſo eben gehört. War es denn nicht,<lb/>
als ſollte ihm ein Verbrechen <hirendition="#g">Conſtanzens</hi> entdeckt<lb/>
werden? Sprach nicht die Gouvernantin ſo, als<lb/>
wüßte er bereits darum? — Auf ſeinem Zimmer an-<lb/>
gekommen, verſchloß er hinter ſich die Thür und las<lb/>
wie folgt:</p><lb/><p>„Nicht einen lezten Blick der Neigung, kein Auge<lb/>
des Mitleids ſollen Sie dieſem Blatte gönnen, das<lb/>
von dem jammervollſten, ach zugleich von dem unwür-<lb/>
digſten Weibe kommt; denn (davon hatten Sie bis<lb/>
dieſen Augenblick noch keine Ahnung) ſo wie mein<lb/>
Unglück, iſt auch meine Schuld ohne Gränzen. Nie<lb/>
kann ich hoffen, Sie mir zu verſöhnen, ja wäre das<lb/>
möglich, ich kann keine Vergebung, auf Ewig keine,<lb/>
von <hirendition="#g">mir</hi> erhalten. Aber die Strafe, die ich ſchreck-<lb/>
lich genug im eigenen Bewußtſeyn trage, bin ich im<lb/>
Begriff auf’s Höchſte zu ſchärfen, indem ich meinen<lb/>
Frevel vor Ihnen enthülle, indem ich freiwillig Ihre<lb/>
ganze Verachtung, Ihren gerechteſten Haß auf mich<lb/>
ziehe. Was hält mich ab vom entehrendſten Bekennt-<lb/>
niß? Iſt man noch eitel, iſt man noch klug, ſucht<lb/>
man ängſtlich noch einigen Schein für ſich zu bewah-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[389/0075]
ſchweſterlich geliebt ſie ſey. Leben Sie wohl, und
denken gerne mein.“
Ehe Theobald noch recht zu danken wußte,
hatte ſie ſich bereits, ihre ſteigende Bewegung zu ver-
bergen, leiſe zurückgezogen. Eilig ging er nach ſeiner
Wohnung, auf’s Höchſte erſtaunt über die räthſelhaf-
ten Dinge, die er ſo eben gehört. War es denn nicht,
als ſollte ihm ein Verbrechen Conſtanzens entdeckt
werden? Sprach nicht die Gouvernantin ſo, als
wüßte er bereits darum? — Auf ſeinem Zimmer an-
gekommen, verſchloß er hinter ſich die Thür und las
wie folgt:
„Nicht einen lezten Blick der Neigung, kein Auge
des Mitleids ſollen Sie dieſem Blatte gönnen, das
von dem jammervollſten, ach zugleich von dem unwür-
digſten Weibe kommt; denn (davon hatten Sie bis
dieſen Augenblick noch keine Ahnung) ſo wie mein
Unglück, iſt auch meine Schuld ohne Gränzen. Nie
kann ich hoffen, Sie mir zu verſöhnen, ja wäre das
möglich, ich kann keine Vergebung, auf Ewig keine,
von mir erhalten. Aber die Strafe, die ich ſchreck-
lich genug im eigenen Bewußtſeyn trage, bin ich im
Begriff auf’s Höchſte zu ſchärfen, indem ich meinen
Frevel vor Ihnen enthülle, indem ich freiwillig Ihre
ganze Verachtung, Ihren gerechteſten Haß auf mich
ziehe. Was hält mich ab vom entehrendſten Bekennt-
niß? Iſt man noch eitel, iſt man noch klug, ſucht
man ängſtlich noch einigen Schein für ſich zu bewah-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/75>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.