Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

funden und voller Schrecken sogleich Lärm gemacht.
Niemand begriff im ersten Augenblick, wie sie nur
irgend aus dem Schlafzimmer entkommen können, da
man dasselbe aus verschiedenen Gründen seit einiger
Zeit von dem untern Stock in den obern verlegt hatte,
die Thüren Nachts sorgfältig geschlossen, auch wirklich
am Morgen noch verschlossen gefunden wurden. Aber
vor einem Seitenfenster, das neben dem Belvedere
hinausführte, entdeckte man zwischen den Bäumen eine
hohe Leiter, welche der Gartenknecht, nach seinem ei-
genen Geständniß, gestern Abends angelegt, weil Ag-
nes
durchaus ein altes Vogelnest verlangt habe, das
oben aus einer der Lücken im steinernen Fries her-
vorgesehen. Nachher war die Leiter vergessen worden,
was ohne Zweifel die Absicht des Mädchens gewesen.

Der Vormittag verflog unter den angestrengte-
sten Nachforschungen, unter endlosem Hin- und Her-
Rathen, Fragen, Boten-Aussenden und Empfangen.
Innerhalb des Schloßbezirks war bereits Alles um
und umgekehrt. Es wurde Abend und noch erschien
von keiner Seite die mindeste Nachricht, der mindeste
Trost. Eine falsche Spur, wozu die irrige Aussage
eines Feldhüters Veranlassung gegeben, machte über-
dieß den größten Aufenthalt.

Die Sonne war seit zwei Stunden untergegan-
gen und noch blieb alles Laufen und Schicken frucht-
los; die Freunde kamen außer sich. Nach Mitter-
nacht kehrten die lezten Fackeln zurück, nur der alte

funden und voller Schrecken ſogleich Lärm gemacht.
Niemand begriff im erſten Augenblick, wie ſie nur
irgend aus dem Schlafzimmer entkommen können, da
man daſſelbe aus verſchiedenen Gründen ſeit einiger
Zeit von dem untern Stock in den obern verlegt hatte,
die Thüren Nachts ſorgfältig geſchloſſen, auch wirklich
am Morgen noch verſchloſſen gefunden wurden. Aber
vor einem Seitenfenſter, das neben dem Belvedere
hinausführte, entdeckte man zwiſchen den Bäumen eine
hohe Leiter, welche der Gartenknecht, nach ſeinem ei-
genen Geſtändniß, geſtern Abends angelegt, weil Ag-
nes
durchaus ein altes Vogelneſt verlangt habe, das
oben aus einer der Lücken im ſteinernen Fries her-
vorgeſehen. Nachher war die Leiter vergeſſen worden,
was ohne Zweifel die Abſicht des Mädchens geweſen.

Der Vormittag verflog unter den angeſtrengte-
ſten Nachforſchungen, unter endloſem Hin- und Her-
Rathen, Fragen, Boten-Ausſenden und Empfangen.
Innerhalb des Schloßbezirks war bereits Alles um
und umgekehrt. Es wurde Abend und noch erſchien
von keiner Seite die mindeſte Nachricht, der mindeſte
Troſt. Eine falſche Spur, wozu die irrige Ausſage
eines Feldhüters Veranlaſſung gegeben, machte über-
dieß den größten Aufenthalt.

Die Sonne war ſeit zwei Stunden untergegan-
gen und noch blieb alles Laufen und Schicken frucht-
los; die Freunde kamen außer ſich. Nach Mitter-
nacht kehrten die lezten Fackeln zurück, nur der alte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0307" n="621"/>
funden und voller Schrecken &#x017F;ogleich Lärm gemacht.<lb/>
Niemand begriff im er&#x017F;ten Augenblick, wie &#x017F;ie nur<lb/>
irgend aus dem Schlafzimmer entkommen können, da<lb/>
man da&#x017F;&#x017F;elbe aus ver&#x017F;chiedenen Gründen &#x017F;eit einiger<lb/>
Zeit von dem untern Stock in den obern verlegt hatte,<lb/>
die Thüren Nachts &#x017F;orgfältig ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, auch wirklich<lb/>
am Morgen noch ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en gefunden wurden. Aber<lb/>
vor einem Seitenfen&#x017F;ter, das neben dem Belvedere<lb/>
hinausführte, entdeckte man zwi&#x017F;chen den Bäumen eine<lb/>
hohe Leiter, welche der Gartenknecht, nach &#x017F;einem ei-<lb/>
genen Ge&#x017F;tändniß, ge&#x017F;tern Abends angelegt, weil <hi rendition="#g">Ag-<lb/>
nes</hi> durchaus ein altes Vogelne&#x017F;t verlangt habe, das<lb/>
oben aus einer der Lücken im &#x017F;teinernen Fries her-<lb/>
vorge&#x017F;ehen. Nachher war die Leiter verge&#x017F;&#x017F;en worden,<lb/>
was ohne Zweifel die Ab&#x017F;icht des Mädchens gewe&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Der Vormittag verflog unter den ange&#x017F;trengte-<lb/>
&#x017F;ten Nachfor&#x017F;chungen, unter endlo&#x017F;em Hin- und Her-<lb/>
Rathen, Fragen, Boten-Aus&#x017F;enden und Empfangen.<lb/>
Innerhalb des Schloßbezirks war bereits Alles um<lb/>
und umgekehrt. Es wurde Abend und noch er&#x017F;chien<lb/>
von keiner Seite die minde&#x017F;te Nachricht, der minde&#x017F;te<lb/>
Tro&#x017F;t. Eine fal&#x017F;che Spur, wozu die irrige Aus&#x017F;age<lb/>
eines Feldhüters Veranla&#x017F;&#x017F;ung gegeben, machte über-<lb/>
dieß den größten Aufenthalt.</p><lb/>
          <p>Die Sonne war &#x017F;eit zwei Stunden untergegan-<lb/>
gen und noch blieb alles Laufen und Schicken frucht-<lb/>
los; die Freunde kamen außer &#x017F;ich. Nach Mitter-<lb/>
nacht kehrten die lezten Fackeln zurück, nur der alte<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[621/0307] funden und voller Schrecken ſogleich Lärm gemacht. Niemand begriff im erſten Augenblick, wie ſie nur irgend aus dem Schlafzimmer entkommen können, da man daſſelbe aus verſchiedenen Gründen ſeit einiger Zeit von dem untern Stock in den obern verlegt hatte, die Thüren Nachts ſorgfältig geſchloſſen, auch wirklich am Morgen noch verſchloſſen gefunden wurden. Aber vor einem Seitenfenſter, das neben dem Belvedere hinausführte, entdeckte man zwiſchen den Bäumen eine hohe Leiter, welche der Gartenknecht, nach ſeinem ei- genen Geſtändniß, geſtern Abends angelegt, weil Ag- nes durchaus ein altes Vogelneſt verlangt habe, das oben aus einer der Lücken im ſteinernen Fries her- vorgeſehen. Nachher war die Leiter vergeſſen worden, was ohne Zweifel die Abſicht des Mädchens geweſen. Der Vormittag verflog unter den angeſtrengte- ſten Nachforſchungen, unter endloſem Hin- und Her- Rathen, Fragen, Boten-Ausſenden und Empfangen. Innerhalb des Schloßbezirks war bereits Alles um und umgekehrt. Es wurde Abend und noch erſchien von keiner Seite die mindeſte Nachricht, der mindeſte Troſt. Eine falſche Spur, wozu die irrige Ausſage eines Feldhüters Veranlaſſung gegeben, machte über- dieß den größten Aufenthalt. Die Sonne war ſeit zwei Stunden untergegan- gen und noch blieb alles Laufen und Schicken frucht- los; die Freunde kamen außer ſich. Nach Mitter- nacht kehrten die lezten Fackeln zurück, nur der alte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/307
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 621. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/307>, abgerufen am 23.11.2024.