Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite
Darum ist's auch, daß ich traurig bin,
Daß ich angstvoll mich am Boden winde --
Hüter! Hüter! ist die Nacht bald hin?
Und was rettet mich von Tod und Sünde?

Bei den lezten Worten fiel Margot Nan-
netten
mit heißen Thränen um den Hals. Der
Präsident ging leise ab und zu. Noch immer klang
die Orgel alleine fort, als könnte sie im Wohllaut
unendlicher Schmerzen zu keinem Schlusse mehr kom-
men. Endlich blieb Alles still. Die Thüre ging auf,
ein artiges Mädchen, Henni's kleine Schwester, welche
die Bälge gezogen, kam auf den Zehen geschlichen her-
aus, entfernte sich bescheiden und ließ die Thüre hin-
ter sich offen. Nun aber hatte man ein wahres Frie-
densbild vor Augen. Der blinde Knabe nämlich saß,
gedankenvoll in sich gebückt, vor der offnen Tastatur, Ag-
nes
, leicht eingeschlafen, auf dem Boden neben ihm, den
Kopf an sein Knie gelehnt, ein Notenblatt auf ihrem
Schoose. Die Abendsonne brach durch die bestäubten
Fensterscheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit
goldenem Licht. Das große Krucifix an der Wand
sah mitleidsvoll auf sie herab.

Nachdem die Freunde eine Zeitlang in stiller Be-
trachtung gestanden, traten sie schweigend zurück und
lehnten die Thüre sacht' an.


Am folgenden Morgen ward Agnes vermißt.
Nannette hatte beim Aufstehn ihr Bette leer ge-

Darum iſt’s auch, daß ich traurig bin,
Daß ich angſtvoll mich am Boden winde —
Hüter! Hüter! iſt die Nacht bald hin?
Und was rettet mich von Tod und Sünde?

Bei den lezten Worten fiel Margot Nan-
netten
mit heißen Thränen um den Hals. Der
Präſident ging leiſe ab und zu. Noch immer klang
die Orgel alleine fort, als könnte ſie im Wohllaut
unendlicher Schmerzen zu keinem Schluſſe mehr kom-
men. Endlich blieb Alles ſtill. Die Thüre ging auf,
ein artiges Mädchen, Henni’s kleine Schweſter, welche
die Bälge gezogen, kam auf den Zehen geſchlichen her-
aus, entfernte ſich beſcheiden und ließ die Thüre hin-
ter ſich offen. Nun aber hatte man ein wahres Frie-
densbild vor Augen. Der blinde Knabe nämlich ſaß,
gedankenvoll in ſich gebückt, vor der offnen Taſtatur, Ag-
nes
, leicht eingeſchlafen, auf dem Boden neben ihm, den
Kopf an ſein Knie gelehnt, ein Notenblatt auf ihrem
Schooſe. Die Abendſonne brach durch die beſtäubten
Fenſterſcheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit
goldenem Licht. Das große Krucifix an der Wand
ſah mitleidsvoll auf ſie herab.

Nachdem die Freunde eine Zeitlang in ſtiller Be-
trachtung geſtanden, traten ſie ſchweigend zurück und
lehnten die Thüre ſacht’ an.


Am folgenden Morgen ward Agnes vermißt.
Nannette hatte beim Aufſtehn ihr Bette leer ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0306" n="620"/>
            <lg n="5">
              <l>Darum i&#x017F;t&#x2019;s auch, daß ich traurig bin,</l><lb/>
              <l>Daß ich ang&#x017F;tvoll mich am Boden winde &#x2014;</l><lb/>
              <l>Hüter! Hüter! i&#x017F;t die Nacht bald hin?</l><lb/>
              <l>Und was rettet mich von Tod und Sünde?</l>
            </lg>
          </lg><lb/>
          <p>Bei den lezten Worten fiel <hi rendition="#g">Margot Nan-<lb/>
netten</hi> mit heißen Thränen um den Hals. Der<lb/>
Prä&#x017F;ident ging lei&#x017F;e ab und zu. Noch immer klang<lb/>
die Orgel alleine fort, als könnte &#x017F;ie im Wohllaut<lb/>
unendlicher Schmerzen zu keinem Schlu&#x017F;&#x017F;e mehr kom-<lb/>
men. Endlich blieb Alles &#x017F;till. Die Thüre ging auf,<lb/>
ein artiges Mädchen, <hi rendition="#g">Henni&#x2019;s</hi> kleine Schwe&#x017F;ter, welche<lb/>
die Bälge gezogen, kam auf den Zehen ge&#x017F;chlichen her-<lb/>
aus, entfernte &#x017F;ich be&#x017F;cheiden und ließ die Thüre hin-<lb/>
ter &#x017F;ich offen. Nun aber hatte man ein wahres Frie-<lb/>
densbild vor Augen. Der blinde Knabe nämlich &#x017F;aß,<lb/>
gedankenvoll in &#x017F;ich gebückt, vor der offnen Ta&#x017F;tatur, <hi rendition="#g">Ag-<lb/>
nes</hi>, leicht einge&#x017F;chlafen, auf dem Boden neben ihm, den<lb/>
Kopf an &#x017F;ein Knie gelehnt, ein Notenblatt auf ihrem<lb/>
Schoo&#x017F;e. Die Abend&#x017F;onne brach durch die be&#x017F;täubten<lb/>
Fen&#x017F;ter&#x017F;cheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit<lb/>
goldenem Licht. Das große Krucifix an der Wand<lb/>
&#x017F;ah mitleidsvoll auf &#x017F;ie herab.</p><lb/>
          <p>Nachdem die Freunde eine Zeitlang in &#x017F;tiller Be-<lb/>
trachtung ge&#x017F;tanden, traten &#x017F;ie &#x017F;chweigend zurück und<lb/>
lehnten die Thüre &#x017F;acht&#x2019; an.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Am folgenden Morgen ward <hi rendition="#g">Agnes</hi> vermißt.<lb/><hi rendition="#g">Nannette</hi> hatte beim Auf&#x017F;tehn ihr Bette leer ge-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[620/0306] Darum iſt’s auch, daß ich traurig bin, Daß ich angſtvoll mich am Boden winde — Hüter! Hüter! iſt die Nacht bald hin? Und was rettet mich von Tod und Sünde? Bei den lezten Worten fiel Margot Nan- netten mit heißen Thränen um den Hals. Der Präſident ging leiſe ab und zu. Noch immer klang die Orgel alleine fort, als könnte ſie im Wohllaut unendlicher Schmerzen zu keinem Schluſſe mehr kom- men. Endlich blieb Alles ſtill. Die Thüre ging auf, ein artiges Mädchen, Henni’s kleine Schweſter, welche die Bälge gezogen, kam auf den Zehen geſchlichen her- aus, entfernte ſich beſcheiden und ließ die Thüre hin- ter ſich offen. Nun aber hatte man ein wahres Frie- densbild vor Augen. Der blinde Knabe nämlich ſaß, gedankenvoll in ſich gebückt, vor der offnen Taſtatur, Ag- nes, leicht eingeſchlafen, auf dem Boden neben ihm, den Kopf an ſein Knie gelehnt, ein Notenblatt auf ihrem Schooſe. Die Abendſonne brach durch die beſtäubten Fenſterſcheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit goldenem Licht. Das große Krucifix an der Wand ſah mitleidsvoll auf ſie herab. Nachdem die Freunde eine Zeitlang in ſtiller Be- trachtung geſtanden, traten ſie ſchweigend zurück und lehnten die Thüre ſacht’ an. Am folgenden Morgen ward Agnes vermißt. Nannette hatte beim Aufſtehn ihr Bette leer ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/306
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 620. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/306>, abgerufen am 05.05.2024.