Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

nichts, als allein bleiben zu dürfen. Da man ihr
dieß nicht weigern durfte, so ward eine Person in's
Nebenzimmer gesezt, von welcher sie auf der Stelle
gehört und allenfalls beobachtet werden konnte.

Noltens Unruhe und Verzagtheit, so lange
man in Agnesens Zustand noch nicht klar sehen
konnte, ist nicht auszusprechen. Es trieb ihn im
Schlosse, es trieb ihn im Freien umher, nicht anders
als einen Menschen, der jeden Augenblick sein Todes-
urtheil kommen sieht. Dabei sagt er sich wohl, daß
vor Allem der Präsident eine befriedigende Erklärung
des Vorfalls erwarten könne, daß er diese sich selbst
und seiner eigenen Ehre schuldig sey. Jedoch mit
der edelsten Schonung verweist ihn Jener auf einen
ruhigeren Zeitpunkt und gönnt ihm gerne die Wohl-
that, sich in der Einsamkeit erst selbst zurechte zu finden.

Ach, aber leider überall erstarren ihm Sinn und
Gedanke; wo und wie er auch immer das fürchter-
liche Angstbild in sich zu drehen und zu wenden ver-
sucht, er sieht nicht Grund noch Boden dieser Ver-
wirrungen ab; auf sich selbst wälzt er die ganze Schuld,
auf jenen Abend, da er die arme Seele so tödtlich er-
schüttert und für die wahnsinnigen Angriffe des Weibs
erst empfänglich gemacht.

Unglücklicherweise kam Nachmittags Besuch von
der Stadt, Herren vom Kollegium des Präsidenten mit
Frauen und Kindern. Der Maler ließ sich verläugnen;

nichts, als allein bleiben zu dürfen. Da man ihr
dieß nicht weigern durfte, ſo ward eine Perſon in’s
Nebenzimmer geſezt, von welcher ſie auf der Stelle
gehört und allenfalls beobachtet werden konnte.

Noltens Unruhe und Verzagtheit, ſo lange
man in Agneſens Zuſtand noch nicht klar ſehen
konnte, iſt nicht auszuſprechen. Es trieb ihn im
Schloſſe, es trieb ihn im Freien umher, nicht anders
als einen Menſchen, der jeden Augenblick ſein Todes-
urtheil kommen ſieht. Dabei ſagt er ſich wohl, daß
vor Allem der Präſident eine befriedigende Erklärung
des Vorfalls erwarten könne, daß er dieſe ſich ſelbſt
und ſeiner eigenen Ehre ſchuldig ſey. Jedoch mit
der edelſten Schonung verweist ihn Jener auf einen
ruhigeren Zeitpunkt und gönnt ihm gerne die Wohl-
that, ſich in der Einſamkeit erſt ſelbſt zurechte zu finden.

Ach, aber leider überall erſtarren ihm Sinn und
Gedanke; wo und wie er auch immer das fürchter-
liche Angſtbild in ſich zu drehen und zu wenden ver-
ſucht, er ſieht nicht Grund noch Boden dieſer Ver-
wirrungen ab; auf ſich ſelbſt wälzt er die ganze Schuld,
auf jenen Abend, da er die arme Seele ſo tödtlich er-
ſchüttert und für die wahnſinnigen Angriffe des Weibs
erſt empfänglich gemacht.

Unglücklicherweiſe kam Nachmittags Beſuch von
der Stadt, Herren vom Kollegium des Präſidenten mit
Frauen und Kindern. Der Maler ließ ſich verläugnen;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0266" n="580"/>
nichts, als allein bleiben zu dürfen. Da man ihr<lb/>
dieß nicht weigern durfte, &#x017F;o ward eine Per&#x017F;on in&#x2019;s<lb/>
Nebenzimmer ge&#x017F;ezt, von welcher &#x017F;ie auf der Stelle<lb/>
gehört und allenfalls beobachtet werden konnte.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Noltens</hi> Unruhe und Verzagtheit, &#x017F;o lange<lb/>
man in <hi rendition="#g">Agne&#x017F;ens</hi> Zu&#x017F;tand noch nicht klar &#x017F;ehen<lb/>
konnte, i&#x017F;t nicht auszu&#x017F;prechen. Es trieb ihn im<lb/>
Schlo&#x017F;&#x017F;e, es trieb ihn im Freien umher, nicht anders<lb/>
als einen Men&#x017F;chen, der jeden Augenblick &#x017F;ein Todes-<lb/>
urtheil kommen &#x017F;ieht. Dabei &#x017F;agt er &#x017F;ich wohl, daß<lb/>
vor Allem der Prä&#x017F;ident eine befriedigende Erklärung<lb/>
des Vorfalls erwarten könne, daß er die&#x017F;e &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
und &#x017F;einer eigenen Ehre &#x017F;chuldig &#x017F;ey. Jedoch mit<lb/>
der edel&#x017F;ten Schonung verweist ihn Jener auf einen<lb/>
ruhigeren Zeitpunkt und gönnt ihm gerne die Wohl-<lb/>
that, &#x017F;ich in der Ein&#x017F;amkeit er&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t zurechte zu finden.</p><lb/>
          <p>Ach, aber leider überall er&#x017F;tarren ihm Sinn und<lb/>
Gedanke; wo und wie er auch immer das fürchter-<lb/>
liche Ang&#x017F;tbild in &#x017F;ich zu drehen und zu wenden ver-<lb/>
&#x017F;ucht, er &#x017F;ieht nicht Grund noch Boden die&#x017F;er Ver-<lb/>
wirrungen ab; auf &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t wälzt er die ganze Schuld,<lb/>
auf jenen Abend, da er die arme Seele &#x017F;o tödtlich er-<lb/>
&#x017F;chüttert und für die wahn&#x017F;innigen Angriffe des Weibs<lb/>
er&#x017F;t empfänglich gemacht.</p><lb/>
          <p>Unglücklicherwei&#x017F;e kam Nachmittags Be&#x017F;uch von<lb/>
der Stadt, Herren vom Kollegium des Prä&#x017F;identen mit<lb/>
Frauen und Kindern. Der Maler ließ &#x017F;ich verläugnen;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[580/0266] nichts, als allein bleiben zu dürfen. Da man ihr dieß nicht weigern durfte, ſo ward eine Perſon in’s Nebenzimmer geſezt, von welcher ſie auf der Stelle gehört und allenfalls beobachtet werden konnte. Noltens Unruhe und Verzagtheit, ſo lange man in Agneſens Zuſtand noch nicht klar ſehen konnte, iſt nicht auszuſprechen. Es trieb ihn im Schloſſe, es trieb ihn im Freien umher, nicht anders als einen Menſchen, der jeden Augenblick ſein Todes- urtheil kommen ſieht. Dabei ſagt er ſich wohl, daß vor Allem der Präſident eine befriedigende Erklärung des Vorfalls erwarten könne, daß er dieſe ſich ſelbſt und ſeiner eigenen Ehre ſchuldig ſey. Jedoch mit der edelſten Schonung verweist ihn Jener auf einen ruhigeren Zeitpunkt und gönnt ihm gerne die Wohl- that, ſich in der Einſamkeit erſt ſelbſt zurechte zu finden. Ach, aber leider überall erſtarren ihm Sinn und Gedanke; wo und wie er auch immer das fürchter- liche Angſtbild in ſich zu drehen und zu wenden ver- ſucht, er ſieht nicht Grund noch Boden dieſer Ver- wirrungen ab; auf ſich ſelbſt wälzt er die ganze Schuld, auf jenen Abend, da er die arme Seele ſo tödtlich er- ſchüttert und für die wahnſinnigen Angriffe des Weibs erſt empfänglich gemacht. Unglücklicherweiſe kam Nachmittags Beſuch von der Stadt, Herren vom Kollegium des Präſidenten mit Frauen und Kindern. Der Maler ließ ſich verläugnen;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/266
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/266>, abgerufen am 09.05.2024.