Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

kamen die stern. sammlete dann meine knecht auf dem
hügel und hielte ihne alles für, was mit dem volker
geschehen sagt auch daß ich müeß von ihne lassen. da
huben sie mit wehklagen an und mit geschrey und ihrer
etlich weineten. ich aber hab ihne den eyd abnommen
sie wöllten auseinander gehn und ein sittsam leben
fürder führen. wo ich denn selbs mein bleibens haben
werd deß soll sich niemand kümmern noch grämen oder
gelüsten lassen daß er mich fahe. ich steh in eins andern
handen als derer menschen. dieß täflein aber gebe von
dem volker ein frumm bescheidentlich zeugnuß und sage
dank auf immerdar der himmlischen huldreichen jung-
frauen Marien als deren segen frisch mög bleiben an
mir und allen gläubigen kindern. so gestift am 3. des
brachmonds im jahr nach unsers Herren geburt 1591.

Leider," fuhr der Pfarrer gegen die Gesellschaft
fort, welche mit sichtbarer Theilnahme zuhörte, "leider
ist das Original dieser Votivtafel verloren gegangen;
eine alte Kopie auf Pergament liegt auf dem Hal-
medorfer Rathhause. Auch die Kapelle ist längst ver-
schwunden; die ältesten Leute erzählen, ihre Urgroß-
väter hätten sie noch gesehn. Wo aber Volker da-
mals sich hingewendet, blieb unbekannt. Einige ver-
muthen einen Pilgerzug nach dem gelobten Land, wo
er dann in ein Kloster gegangen seyn soll."

"Eine andere Sage," nahm der Obrist wieder das
Wort, "läßt ihn auf dem Wege nach Jerusalem von
seiner Mutter, einer Zauberin, entführt werden und

kamen die ſtern. ſammlete dann meine knecht auf dem
hügel und hielte ihne alles für, was mit dem volker
geſchehen ſagt auch daß ich müeß von ihne laſſen. da
huben ſie mit wehklagen an und mit geſchrey und ihrer
etlich weineten. ich aber hab ihne den eyd abnommen
ſie wöllten auseinander gehn und ein ſittſam leben
fürder führen. wo ich denn ſelbs mein bleibens haben
werd deß ſoll ſich niemand kümmern noch grämen oder
gelüſten laſſen daß er mich fahe. ich ſteh in eins andern
handen als derer menſchen. dieß täflein aber gebe von
dem volker ein frumm beſcheidentlich zeugnuß und ſage
dank auf immerdar der himmliſchen huldreichen jung-
frauen Marien als deren ſegen friſch mög bleiben an
mir und allen gläubigen kindern. ſo geſtift am 3. des
brachmonds im jahr nach unſers Herren geburt 1591.

Leider,“ fuhr der Pfarrer gegen die Geſellſchaft
fort, welche mit ſichtbarer Theilnahme zuhörte, „leider
iſt das Original dieſer Votivtafel verloren gegangen;
eine alte Kopie auf Pergament liegt auf dem Hal-
medorfer Rathhauſe. Auch die Kapelle iſt längſt ver-
ſchwunden; die älteſten Leute erzählen, ihre Urgroß-
väter hätten ſie noch geſehn. Wo aber Volker da-
mals ſich hingewendet, blieb unbekannt. Einige ver-
muthen einen Pilgerzug nach dem gelobten Land, wo
er dann in ein Kloſter gegangen ſeyn ſoll.“

„Eine andere Sage,“ nahm der Obriſt wieder das
Wort, „läßt ihn auf dem Wege nach Jeruſalem von
ſeiner Mutter, einer Zauberin, entführt werden und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0138" n="452"/>
kamen die &#x017F;tern. &#x017F;ammlete dann meine knecht auf dem<lb/>
hügel und hielte ihne alles für, was mit dem volker<lb/>
ge&#x017F;chehen &#x017F;agt auch daß ich müeß von ihne la&#x017F;&#x017F;en. da<lb/>
huben &#x017F;ie mit wehklagen an und mit ge&#x017F;chrey und ihrer<lb/>
etlich weineten. ich aber hab ihne den eyd abnommen<lb/>
&#x017F;ie wöllten auseinander gehn und ein &#x017F;itt&#x017F;am leben<lb/>
fürder führen. wo ich denn &#x017F;elbs mein bleibens haben<lb/>
werd deß &#x017F;oll &#x017F;ich niemand kümmern noch grämen oder<lb/>
gelü&#x017F;ten la&#x017F;&#x017F;en daß er mich fahe. ich &#x017F;teh in eins andern<lb/>
handen als derer men&#x017F;chen. dieß täflein aber gebe von<lb/>
dem volker ein frumm be&#x017F;cheidentlich zeugnuß und &#x017F;age<lb/>
dank auf immerdar der himmli&#x017F;chen huldreichen jung-<lb/>
frauen Marien als deren &#x017F;egen fri&#x017F;ch mög bleiben an<lb/>
mir und allen gläubigen kindern. &#x017F;o ge&#x017F;tift am 3. des<lb/>
brachmonds im jahr nach un&#x017F;ers Herren geburt 1591.</p><lb/>
          <p>Leider,&#x201C; fuhr der Pfarrer gegen die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
fort, welche mit &#x017F;ichtbarer Theilnahme zuhörte, &#x201E;leider<lb/>
i&#x017F;t das Original die&#x017F;er Votivtafel verloren gegangen;<lb/>
eine alte Kopie auf Pergament liegt auf dem Hal-<lb/>
medorfer Rathhau&#x017F;e. Auch die Kapelle i&#x017F;t läng&#x017F;t ver-<lb/>
&#x017F;chwunden; die älte&#x017F;ten Leute erzählen, ihre Urgroß-<lb/>
väter hätten &#x017F;ie noch ge&#x017F;ehn. Wo aber <hi rendition="#g">Volker</hi> da-<lb/>
mals &#x017F;ich hingewendet, blieb unbekannt. Einige ver-<lb/>
muthen einen Pilgerzug nach dem gelobten Land, wo<lb/>
er dann in ein Klo&#x017F;ter gegangen &#x017F;eyn &#x017F;oll.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Eine andere Sage,&#x201C; nahm der Obri&#x017F;t wieder das<lb/>
Wort, &#x201E;läßt ihn auf dem Wege nach Jeru&#x017F;alem von<lb/>
&#x017F;einer Mutter, einer Zauberin, entführt werden und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[452/0138] kamen die ſtern. ſammlete dann meine knecht auf dem hügel und hielte ihne alles für, was mit dem volker geſchehen ſagt auch daß ich müeß von ihne laſſen. da huben ſie mit wehklagen an und mit geſchrey und ihrer etlich weineten. ich aber hab ihne den eyd abnommen ſie wöllten auseinander gehn und ein ſittſam leben fürder führen. wo ich denn ſelbs mein bleibens haben werd deß ſoll ſich niemand kümmern noch grämen oder gelüſten laſſen daß er mich fahe. ich ſteh in eins andern handen als derer menſchen. dieß täflein aber gebe von dem volker ein frumm beſcheidentlich zeugnuß und ſage dank auf immerdar der himmliſchen huldreichen jung- frauen Marien als deren ſegen friſch mög bleiben an mir und allen gläubigen kindern. ſo geſtift am 3. des brachmonds im jahr nach unſers Herren geburt 1591. Leider,“ fuhr der Pfarrer gegen die Geſellſchaft fort, welche mit ſichtbarer Theilnahme zuhörte, „leider iſt das Original dieſer Votivtafel verloren gegangen; eine alte Kopie auf Pergament liegt auf dem Hal- medorfer Rathhauſe. Auch die Kapelle iſt längſt ver- ſchwunden; die älteſten Leute erzählen, ihre Urgroß- väter hätten ſie noch geſehn. Wo aber Volker da- mals ſich hingewendet, blieb unbekannt. Einige ver- muthen einen Pilgerzug nach dem gelobten Land, wo er dann in ein Kloſter gegangen ſeyn ſoll.“ „Eine andere Sage,“ nahm der Obriſt wieder das Wort, „läßt ihn auf dem Wege nach Jeruſalem von ſeiner Mutter, einer Zauberin, entführt werden und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/138
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/138>, abgerufen am 27.04.2024.