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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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frühern Zustandes ist, daß Alter und Gebrechlichkeit
diesen überbliebenen Zeichen einer bessern Zeit wider-
sprechen. Und so betrübte auch Nolten sich im Stil-
len, da er den guten Mann genauer betrachtete. Er
ging um Vieles gebückter, sein faltiges Gesicht war
bedeutend blässer und schmaler geworden, nur die wohl-
wollende Freundlichkeit seines Mundes und das geist-
reiche Feuer seiner Augen konnte diese Betrachtungen
vergessen machen.

Während nun zwischen den vier Personen das
Gespräch heiter und gefällig hin und her spielt, kann
es bei aller äußern Unbefangenheit nicht fehlen, daß
Nolten und der Baron durch Blick und Miene, noch
mehr aber durch gewisse zufällige, unbeschreibliche
Merkmale des Ideengangs sich einander unwillkürlich
verrathen, was Jeder von Beiden bei diesem Zusam-
mentreffen besonders denken und empfinden mochte,
und unser Freund glaubte den Baron vollkommen zu
verstehen, als dieser mit ganz eignem Wohlgefallen
und einer Art von Feierlichkeit seine Hand auf das schöne
Haupt Agnesens legte, indem er einen Blick auf
den Bräutigam hinüberlaufen ließ. Nolten fand
einen Trost darin, daß er den heimlichen Vorwurf,
das theure Geschöpf so tief verkannt zu haben, mit
einem Manne theilen durfte, den er so sehr verehrte;
ja es war diese Idee, wiewohl vielleicht nur dunkel,
eben dasjenige gewesen, was ihm gleich bei des Ba-
rons Eintritt in's Zimmer die größte Last vom Her-

frühern Zuſtandes iſt, daß Alter und Gebrechlichkeit
dieſen überbliebenen Zeichen einer beſſern Zeit wider-
ſprechen. Und ſo betrübte auch Nolten ſich im Stil-
len, da er den guten Mann genauer betrachtete. Er
ging um Vieles gebückter, ſein faltiges Geſicht war
bedeutend bläſſer und ſchmaler geworden, nur die wohl-
wollende Freundlichkeit ſeines Mundes und das geiſt-
reiche Feuer ſeiner Augen konnte dieſe Betrachtungen
vergeſſen machen.

Während nun zwiſchen den vier Perſonen das
Geſpräch heiter und gefällig hin und her ſpielt, kann
es bei aller äußern Unbefangenheit nicht fehlen, daß
Nolten und der Baron durch Blick und Miene, noch
mehr aber durch gewiſſe zufällige, unbeſchreibliche
Merkmale des Ideengangs ſich einander unwillkürlich
verrathen, was Jeder von Beiden bei dieſem Zuſam-
mentreffen beſonders denken und empfinden mochte,
und unſer Freund glaubte den Baron vollkommen zu
verſtehen, als dieſer mit ganz eignem Wohlgefallen
und einer Art von Feierlichkeit ſeine Hand auf das ſchöne
Haupt Agneſens legte, indem er einen Blick auf
den Bräutigam hinüberlaufen ließ. Nolten fand
einen Troſt darin, daß er den heimlichen Vorwurf,
das theure Geſchöpf ſo tief verkannt zu haben, mit
einem Manne theilen durfte, den er ſo ſehr verehrte;
ja es war dieſe Idee, wiewohl vielleicht nur dunkel,
eben dasjenige geweſen, was ihm gleich bei des Ba-
rons Eintritt in’s Zimmer die größte Laſt vom Her-

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[416/0102] frühern Zuſtandes iſt, daß Alter und Gebrechlichkeit dieſen überbliebenen Zeichen einer beſſern Zeit wider- ſprechen. Und ſo betrübte auch Nolten ſich im Stil- len, da er den guten Mann genauer betrachtete. Er ging um Vieles gebückter, ſein faltiges Geſicht war bedeutend bläſſer und ſchmaler geworden, nur die wohl- wollende Freundlichkeit ſeines Mundes und das geiſt- reiche Feuer ſeiner Augen konnte dieſe Betrachtungen vergeſſen machen. Während nun zwiſchen den vier Perſonen das Geſpräch heiter und gefällig hin und her ſpielt, kann es bei aller äußern Unbefangenheit nicht fehlen, daß Nolten und der Baron durch Blick und Miene, noch mehr aber durch gewiſſe zufällige, unbeſchreibliche Merkmale des Ideengangs ſich einander unwillkürlich verrathen, was Jeder von Beiden bei dieſem Zuſam- mentreffen beſonders denken und empfinden mochte, und unſer Freund glaubte den Baron vollkommen zu verſtehen, als dieſer mit ganz eignem Wohlgefallen und einer Art von Feierlichkeit ſeine Hand auf das ſchöne Haupt Agneſens legte, indem er einen Blick auf den Bräutigam hinüberlaufen ließ. Nolten fand einen Troſt darin, daß er den heimlichen Vorwurf, das theure Geſchöpf ſo tief verkannt zu haben, mit einem Manne theilen durfte, den er ſo ſehr verehrte; ja es war dieſe Idee, wiewohl vielleicht nur dunkel, eben dasjenige geweſen, was ihm gleich bei des Ba- rons Eintritt in’s Zimmer die größte Laſt vom Her-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/102>, abgerufen am 23.11.2024.