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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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Wand hingepflanzt stehen, während der erschrockene
Sänger, im Begriffe abzubrechen, auf einen Wink
des Larkens mit der lezten Strophe fortfuhr, deren
Eindruck durch die Gegenwart dieses fremden Wesens
entweder nur um so mehr erhöht wurde oder ganz
verloren ging.

Jezt begrüßte der sonderbare Gast mit Würde
die Anwesenden, und wenn sich auch Anfangs einige
Verlegenheit von Seiten der Freunde bemerken ließ,
so war doch bald eine eben so natürliche als eigen-
thümliche Unterhaltung eingeleitet. Man sprach vom
geheimnißvollen Reize des Wohnens auf Thürmen,
von dem frommen und großen Sinn des Mittelalters,
wie er sich in den Formen der Baukunst, der heiligen
besonders, offenbarte, und dergleichen mehr. Die Ge-
genwart des Unbekannten, so sparsam bis jezt seine
Worte waren, übte dennoch den größten Einfluß auf
die Bedeutung und die steigende Wärme des Gesprächs.
Die hohl aus der Maske tönende Sprache und der
ruhige Ernst der durchblickenden, dunkel feurigen Au-
gen konnte sogar ein vorübergehendes Grauen erregen
und einen momentanen Glauben an etwas Ueber-
menschliches aufkommen lassen.

Auf einmal erhob sich der Unbekannte, öffnete
ein Fenster und sah in die klare Winterluft hinaus,
indem er sagte: "Noch eine kurze Weile, so ist der
Sand verlaufen, hoch empor gehalten schwebt der

Wand hingepflanzt ſtehen, während der erſchrockene
Sänger, im Begriffe abzubrechen, auf einen Wink
des Larkens mit der lezten Strophe fortfuhr, deren
Eindruck durch die Gegenwart dieſes fremden Weſens
entweder nur um ſo mehr erhöht wurde oder ganz
verloren ging.

Jezt begrüßte der ſonderbare Gaſt mit Würde
die Anweſenden, und wenn ſich auch Anfangs einige
Verlegenheit von Seiten der Freunde bemerken ließ,
ſo war doch bald eine eben ſo natürliche als eigen-
thümliche Unterhaltung eingeleitet. Man ſprach vom
geheimnißvollen Reize des Wohnens auf Thürmen,
von dem frommen und großen Sinn des Mittelalters,
wie er ſich in den Formen der Baukunſt, der heiligen
beſonders, offenbarte, und dergleichen mehr. Die Ge-
genwart des Unbekannten, ſo ſparſam bis jezt ſeine
Worte waren, übte dennoch den größten Einfluß auf
die Bedeutung und die ſteigende Wärme des Geſprächs.
Die hohl aus der Maske tönende Sprache und der
ruhige Ernſt der durchblickenden, dunkel feurigen Au-
gen konnte ſogar ein vorübergehendes Grauen erregen
und einen momentanen Glauben an etwas Ueber-
menſchliches aufkommen laſſen.

Auf einmal erhob ſich der Unbekannte, öffnete
ein Fenſter und ſah in die klare Winterluft hinaus,
indem er ſagte: „Noch eine kurze Weile, ſo iſt der
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[47/0055] Wand hingepflanzt ſtehen, während der erſchrockene Sänger, im Begriffe abzubrechen, auf einen Wink des Larkens mit der lezten Strophe fortfuhr, deren Eindruck durch die Gegenwart dieſes fremden Weſens entweder nur um ſo mehr erhöht wurde oder ganz verloren ging. Jezt begrüßte der ſonderbare Gaſt mit Würde die Anweſenden, und wenn ſich auch Anfangs einige Verlegenheit von Seiten der Freunde bemerken ließ, ſo war doch bald eine eben ſo natürliche als eigen- thümliche Unterhaltung eingeleitet. Man ſprach vom geheimnißvollen Reize des Wohnens auf Thürmen, von dem frommen und großen Sinn des Mittelalters, wie er ſich in den Formen der Baukunſt, der heiligen beſonders, offenbarte, und dergleichen mehr. Die Ge- genwart des Unbekannten, ſo ſparſam bis jezt ſeine Worte waren, übte dennoch den größten Einfluß auf die Bedeutung und die ſteigende Wärme des Geſprächs. Die hohl aus der Maske tönende Sprache und der ruhige Ernſt der durchblickenden, dunkel feurigen Au- gen konnte ſogar ein vorübergehendes Grauen erregen und einen momentanen Glauben an etwas Ueber- menſchliches aufkommen laſſen. Auf einmal erhob ſich der Unbekannte, öffnete ein Fenſter und ſah in die klare Winterluft hinaus, indem er ſagte: „Noch eine kurze Weile, ſo iſt der Sand verlaufen, hoch empor gehalten ſchwebt der

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/55>, abgerufen am 24.11.2024.