süchtig und bittend anzulocken schien, trat mehr und mehr in den Hintergrund seiner Seele zurück, um einem ganz ande- ren Platz zu machen, das mit jeder neuen Entfaltung der glänzenden Gruppen leibhaftig aus der Menge her- vortreten sollte. Constanze! sprach er für sich, wer entdeckt mir sie? Und doch wie wäre es möglich, daß ich aus tausend Drahtpuppen das einzige Wesen nicht sollte herausfinden können, das in der einfachsten, un- willkürlichsten Bewegung jene angeborene Grazie, je- nen stets lächelnden Zauber verräth, den nur die ewig wahrhaftige Natur, den nur die Unschuld selber zu ge- ben und so reizend und leicht mit der anerzogenen Sitte zu verschmelzen vermag! Ist nicht Alles, was an ihr sich regt und bewegt, der unbewußte Ausdruck des Engels, der in ihr athmet? ist nicht Alles nur Hauch, nur Geist an ihr? Und heute, eben heute, wie wohl thäte mir ihr Anblick! wie wollte ich mich drei Sekunden mit allen Sinnen und Gedanken an dieser tröstlichen Erscheinung festklammern und davon eilen und mir zufrieden sagen, daß mein Auge sie sah, daß ihr Fuß einen und denselben Boden mit mir betrat, daß eine gemeinschaftliche Luft meine und ihre Lippen berührte!
Unter diesen und ähnlichen Gedanken hatte er sich endlich ermüdet auf einen Sitz in einem Fenster gewor- fen, als der Glockenschlag zehn Uhr ihn mahnte, sich mit den drei Freunden in einem zuvor abgeredeten leeren Zimmer des Hauses zusammenzufinden. Sie
ſüchtig und bittend anzulocken ſchien, trat mehr und mehr in den Hintergrund ſeiner Seele zurück, um einem ganz ande- ren Platz zu machen, das mit jeder neuen Entfaltung der glänzenden Gruppen leibhaftig aus der Menge her- vortreten ſollte. Conſtanze! ſprach er für ſich, wer entdeckt mir ſie? Und doch wie wäre es möglich, daß ich aus tauſend Drahtpuppen das einzige Weſen nicht ſollte herausfinden können, das in der einfachſten, un- willkürlichſten Bewegung jene angeborene Grazie, je- nen ſtets lächelnden Zauber verräth, den nur die ewig wahrhaftige Natur, den nur die Unſchuld ſelber zu ge- ben und ſo reizend und leicht mit der anerzogenen Sitte zu verſchmelzen vermag! Iſt nicht Alles, was an ihr ſich regt und bewegt, der unbewußte Ausdruck des Engels, der in ihr athmet? iſt nicht Alles nur Hauch, nur Geiſt an ihr? Und heute, eben heute, wie wohl thäte mir ihr Anblick! wie wollte ich mich drei Sekunden mit allen Sinnen und Gedanken an dieſer tröſtlichen Erſcheinung feſtklammern und davon eilen und mir zufrieden ſagen, daß mein Auge ſie ſah, daß ihr Fuß einen und denſelben Boden mit mir betrat, daß eine gemeinſchaftliche Luft meine und ihre Lippen berührte!
Unter dieſen und ähnlichen Gedanken hatte er ſich endlich ermüdet auf einen Sitz in einem Fenſter gewor- fen, als der Glockenſchlag zehn Uhr ihn mahnte, ſich mit den drei Freunden in einem zuvor abgeredeten leeren Zimmer des Hauſes zuſammenzufinden. Sie
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ſüchtig und bittend anzulocken ſchien, trat mehr und mehr in
den Hintergrund ſeiner Seele zurück, um einem ganz ande-
ren Platz zu machen, das mit jeder neuen Entfaltung
der glänzenden Gruppen leibhaftig aus der Menge her-
vortreten ſollte. Conſtanze! ſprach er für ſich, wer
entdeckt mir ſie? Und doch wie wäre es möglich, daß
ich aus tauſend Drahtpuppen das einzige Weſen nicht
ſollte herausfinden können, das in der einfachſten, un-
willkürlichſten Bewegung jene angeborene Grazie, je-
nen ſtets lächelnden Zauber verräth, den nur die ewig
wahrhaftige Natur, den nur die Unſchuld ſelber zu ge-
ben und ſo reizend und leicht mit der anerzogenen
Sitte zu verſchmelzen vermag! Iſt nicht Alles, was
an ihr ſich regt und bewegt, der unbewußte Ausdruck
des Engels, der in ihr athmet? iſt nicht Alles nur
Hauch, nur Geiſt an ihr? Und heute, eben heute, wie
wohl thäte mir ihr Anblick! wie wollte ich mich drei
Sekunden mit allen Sinnen und Gedanken an dieſer
tröſtlichen Erſcheinung feſtklammern und davon eilen
und mir zufrieden ſagen, daß mein Auge ſie ſah, daß
ihr Fuß einen und denſelben Boden mit mir betrat,
daß eine gemeinſchaftliche Luft meine und ihre Lippen
berührte!
Unter dieſen und ähnlichen Gedanken hatte er ſich
endlich ermüdet auf einen Sitz in einem Fenſter gewor-
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/46>, abgerufen am 29.01.2025.
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