Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

nach und nach über eine schmerzliche Empfindung, die
ihn zu verzehren drohte, Herr zu werden, so war auf
der andern Seite das Mädchen indessen nicht schlimmer
daran. Agnes glaubte sich noch immer geliebt, und
dieser glückliche Glaube ward, wie wir später erfahren
werden, auf eine wunderliche Art, ganz ohne Zuthun
Theobalds, unterhalten, während er schon eine frei-
willige Auflösung des Bündnisses von ihrer Seite zu
hoffen begann, denn das Ausbleiben ihrer Briefe
nahm er ohne Weiteres für ein Zeichen ihres eigenen
Schuldbewußtseyns. In dieser halbfreien, noch immer
etwas wunden Stimmung fand er die Bekanntschaft
mit der Gräfin Constanze, und nun läßt sich die
Innigkeit um so leichter begreifen, womit die gereizten
Organe seiner Seele sich nach diesem neuen Lichte hin-
zuwenden strebten.


Im spanischen Hofe, so hieß das bedeutendste
Hotel der Stadt, war es am Abende des letzten De-
zembers, wo die vornehme Welt sich bereits eifrig zur
Maskerade zu rüsten hatte, ungewöhnlich stille. In
dem hintersten grünen Eckzimmer leuchteten die beiden
hellbrennenden Hänge-Lampen nur zweien Gästen, wo-
von der Eine, wie es schien, ein regelmäßiger, mit
Welt und feinerer Gasthofsitte wohlvertrauter Besuch,
ein pensionirter Staatsdiener von Range, der Andere
ein junger Bildhauer war, der erst vor wenig Stun-

nach und nach über eine ſchmerzliche Empfindung, die
ihn zu verzehren drohte, Herr zu werden, ſo war auf
der andern Seite das Mädchen indeſſen nicht ſchlimmer
daran. Agnes glaubte ſich noch immer geliebt, und
dieſer glückliche Glaube ward, wie wir ſpäter erfahren
werden, auf eine wunderliche Art, ganz ohne Zuthun
Theobalds, unterhalten, während er ſchon eine frei-
willige Auflöſung des Bündniſſes von ihrer Seite zu
hoffen begann, denn das Ausbleiben ihrer Briefe
nahm er ohne Weiteres für ein Zeichen ihres eigenen
Schuldbewußtſeyns. In dieſer halbfreien, noch immer
etwas wunden Stimmung fand er die Bekanntſchaft
mit der Gräfin Conſtanze, und nun läßt ſich die
Innigkeit um ſo leichter begreifen, womit die gereizten
Organe ſeiner Seele ſich nach dieſem neuen Lichte hin-
zuwenden ſtrebten.


Im ſpaniſchen Hofe, ſo hieß das bedeutendſte
Hôtel der Stadt, war es am Abende des letzten De-
zembers, wo die vornehme Welt ſich bereits eifrig zur
Maskerade zu rüſten hatte, ungewöhnlich ſtille. In
dem hinterſten grünen Eckzimmer leuchteten die beiden
hellbrennenden Hänge-Lampen nur zweien Gäſten, wo-
von der Eine, wie es ſchien, ein regelmäßiger, mit
Welt und feinerer Gaſthofſitte wohlvertrauter Beſuch,
ein penſionirter Staatsdiener von Range, der Andere
ein junger Bildhauer war, der erſt vor wenig Stun-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0037" n="29"/>
nach und nach über eine &#x017F;chmerzliche Empfindung, die<lb/>
ihn zu verzehren drohte, Herr zu werden, &#x017F;o war auf<lb/>
der andern Seite das Mädchen inde&#x017F;&#x017F;en nicht &#x017F;chlimmer<lb/>
daran. <hi rendition="#g">Agnes</hi> glaubte &#x017F;ich noch immer geliebt, und<lb/>
die&#x017F;er glückliche Glaube ward, wie wir &#x017F;päter erfahren<lb/>
werden, auf eine wunderliche Art, ganz ohne Zuthun<lb/><hi rendition="#g">Theobalds</hi>, unterhalten, während <hi rendition="#g">er</hi> &#x017F;chon eine frei-<lb/>
willige Auflö&#x017F;ung des Bündni&#x017F;&#x017F;es von ihrer Seite zu<lb/>
hoffen begann, denn das Ausbleiben ihrer Briefe<lb/>
nahm er ohne Weiteres für ein Zeichen ihres eigenen<lb/>
Schuldbewußt&#x017F;eyns. In die&#x017F;er halbfreien, noch immer<lb/>
etwas wunden Stimmung fand er die Bekannt&#x017F;chaft<lb/>
mit der Gräfin <hi rendition="#g">Con&#x017F;tanze</hi>, und nun läßt &#x017F;ich die<lb/>
Innigkeit um &#x017F;o leichter begreifen, womit die gereizten<lb/>
Organe &#x017F;einer Seele &#x017F;ich nach die&#x017F;em neuen Lichte hin-<lb/>
zuwenden &#x017F;trebten.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Im &#x017F;pani&#x017F;chen Hofe, &#x017F;o hieß das bedeutend&#x017F;te<lb/>
H<hi rendition="#aq">ô</hi>tel der Stadt, war es am Abende des letzten De-<lb/>
zembers, wo die vornehme Welt &#x017F;ich bereits eifrig zur<lb/>
Maskerade zu rü&#x017F;ten hatte, ungewöhnlich &#x017F;tille. In<lb/>
dem hinter&#x017F;ten grünen Eckzimmer leuchteten die beiden<lb/>
hellbrennenden Hänge-Lampen nur zweien Gä&#x017F;ten, wo-<lb/>
von der Eine, wie es &#x017F;chien, ein regelmäßiger, mit<lb/>
Welt und feinerer Ga&#x017F;thof&#x017F;itte wohlvertrauter Be&#x017F;uch,<lb/>
ein pen&#x017F;ionirter Staatsdiener von Range, der Andere<lb/>
ein junger Bildhauer war, der er&#x017F;t vor wenig Stun-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[29/0037] nach und nach über eine ſchmerzliche Empfindung, die ihn zu verzehren drohte, Herr zu werden, ſo war auf der andern Seite das Mädchen indeſſen nicht ſchlimmer daran. Agnes glaubte ſich noch immer geliebt, und dieſer glückliche Glaube ward, wie wir ſpäter erfahren werden, auf eine wunderliche Art, ganz ohne Zuthun Theobalds, unterhalten, während er ſchon eine frei- willige Auflöſung des Bündniſſes von ihrer Seite zu hoffen begann, denn das Ausbleiben ihrer Briefe nahm er ohne Weiteres für ein Zeichen ihres eigenen Schuldbewußtſeyns. In dieſer halbfreien, noch immer etwas wunden Stimmung fand er die Bekanntſchaft mit der Gräfin Conſtanze, und nun läßt ſich die Innigkeit um ſo leichter begreifen, womit die gereizten Organe ſeiner Seele ſich nach dieſem neuen Lichte hin- zuwenden ſtrebten. Im ſpaniſchen Hofe, ſo hieß das bedeutendſte Hôtel der Stadt, war es am Abende des letzten De- zembers, wo die vornehme Welt ſich bereits eifrig zur Maskerade zu rüſten hatte, ungewöhnlich ſtille. In dem hinterſten grünen Eckzimmer leuchteten die beiden hellbrennenden Hänge-Lampen nur zweien Gäſten, wo- von der Eine, wie es ſchien, ein regelmäßiger, mit Welt und feinerer Gaſthofſitte wohlvertrauter Beſuch, ein penſionirter Staatsdiener von Range, der Andere ein junger Bildhauer war, der erſt vor wenig Stun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/37
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/37>, abgerufen am 03.12.2024.