Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

sich schnell zurück, die Jungfrau selber entfernte sich
mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo
sie hinter den Mauern verschwand. In diesem Au-
genblick kam Adelheid rüstig den Wall herunterge-
sprungen, allein sie hielt mit Einemmal betroffen an,
denn der alte Gesang schwang sich mächtig, durchdrin-
gend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd schwar-
zes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht
unterscheiden. Ein leidenschaftlicher, ein düsterer Geist
beseelte diese unregelmäßig auf und absteigenden Melo-
dieen, so fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne
waren. Erstaunt erhob sich Theobald von seinem
Sitz, mit Entsetzen trat ihm die Schwester nahe. "Wir
haben eine Wahnsinnige gefunden," sagte sie, "mache,
daß wir fortkommen." "Um Gotteswillen bleib!" rief
Theobald, durch das Ungewöhnliche des Auftritts
zu einer außerordentlichen Kraft gesteigert: "Liebe
Schwester, du warst doch sonst keine von denen, die für
das Seltene, was sie nicht begreifen, gleich einen ver-
pönenden Namen wissen. Ja, und wär es auch eine
Wahnsinnige, sie wird uns nicht schaden. Ich kenne
sie und sie kennt mich. Du sollst noch Vieles hören."
Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Gesang
gekommen war, welcher indessen wieder aufgehört hatte.
Die Schwester, ihren Ohren kaum trauend, sah ihm
nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußerster Be-
sorgniß. So blieb sie eine geraume Weile, dann rief

ſich ſchnell zurück, die Jungfrau ſelber entfernte ſich
mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo
ſie hinter den Mauern verſchwand. In dieſem Au-
genblick kam Adelheid rüſtig den Wall herunterge-
ſprungen, allein ſie hielt mit Einemmal betroffen an,
denn der alte Geſang ſchwang ſich mächtig, durchdrin-
gend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd ſchwar-
zes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht
unterſcheiden. Ein leidenſchaftlicher, ein düſterer Geiſt
beſeelte dieſe unregelmäßig auf und abſteigenden Melo-
dieen, ſo fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne
waren. Erſtaunt erhob ſich Theobald von ſeinem
Sitz, mit Entſetzen trat ihm die Schweſter nahe. „Wir
haben eine Wahnſinnige gefunden,“ ſagte ſie, „mache,
daß wir fortkommen.“ „Um Gotteswillen bleib!“ rief
Theobald, durch das Ungewöhnliche des Auftritts
zu einer außerordentlichen Kraft geſteigert: „Liebe
Schweſter, du warſt doch ſonſt keine von denen, die für
das Seltene, was ſie nicht begreifen, gleich einen ver-
pönenden Namen wiſſen. Ja, und wär es auch eine
Wahnſinnige, ſie wird uns nicht ſchaden. Ich kenne
ſie und ſie kennt mich. Du ſollſt noch Vieles hören.“
Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Geſang
gekommen war, welcher indeſſen wieder aufgehört hatte.
Die Schweſter, ihren Ohren kaum trauend, ſah ihm
nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußerſter Be-
ſorgniß. So blieb ſie eine geraume Weile, dann rief

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0296" n="288"/>
&#x017F;ich &#x017F;chnell zurück, die Jungfrau &#x017F;elber entfernte &#x017F;ich<lb/>
mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo<lb/>
&#x017F;ie hinter den Mauern ver&#x017F;chwand. In die&#x017F;em Au-<lb/>
genblick kam <hi rendition="#g">Adelheid</hi>&#x017F;tig den Wall herunterge-<lb/>
&#x017F;prungen, allein &#x017F;ie hielt mit Einemmal betroffen an,<lb/>
denn der alte Ge&#x017F;ang &#x017F;chwang &#x017F;ich mächtig, durchdrin-<lb/>
gend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd &#x017F;chwar-<lb/>
zes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht<lb/>
unter&#x017F;cheiden. Ein leiden&#x017F;chaftlicher, ein dü&#x017F;terer Gei&#x017F;t<lb/>
be&#x017F;eelte die&#x017F;e unregelmäßig auf und ab&#x017F;teigenden Melo-<lb/>
dieen, &#x017F;o fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne<lb/>
waren. Er&#x017F;taunt erhob &#x017F;ich <hi rendition="#g">Theobald</hi> von &#x017F;einem<lb/>
Sitz, mit Ent&#x017F;etzen trat ihm die Schwe&#x017F;ter nahe. &#x201E;Wir<lb/>
haben eine Wahn&#x017F;innige gefunden,&#x201C; &#x017F;agte &#x017F;ie, &#x201E;mache,<lb/>
daß wir fortkommen.&#x201C; &#x201E;Um Gotteswillen bleib!&#x201C; rief<lb/><hi rendition="#g">Theobald</hi>, durch das Ungewöhnliche des Auftritts<lb/>
zu einer außerordentlichen Kraft ge&#x017F;teigert: &#x201E;Liebe<lb/>
Schwe&#x017F;ter, du war&#x017F;t doch &#x017F;on&#x017F;t keine von denen, die für<lb/>
das Seltene, was &#x017F;ie nicht begreifen, gleich einen ver-<lb/>
pönenden Namen wi&#x017F;&#x017F;en. Ja, und wär es auch eine<lb/>
Wahn&#x017F;innige, &#x017F;ie wird uns nicht &#x017F;chaden. Ich kenne<lb/>
&#x017F;ie und &#x017F;ie kennt mich. Du &#x017F;oll&#x017F;t noch Vieles hören.&#x201C;<lb/>
Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Ge&#x017F;ang<lb/>
gekommen war, welcher inde&#x017F;&#x017F;en wieder aufgehört hatte.<lb/>
Die Schwe&#x017F;ter, ihren Ohren kaum trauend, &#x017F;ah ihm<lb/>
nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußer&#x017F;ter Be-<lb/>
&#x017F;orgniß. So blieb &#x017F;ie eine geraume Weile, dann rief<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[288/0296] ſich ſchnell zurück, die Jungfrau ſelber entfernte ſich mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo ſie hinter den Mauern verſchwand. In dieſem Au- genblick kam Adelheid rüſtig den Wall herunterge- ſprungen, allein ſie hielt mit Einemmal betroffen an, denn der alte Geſang ſchwang ſich mächtig, durchdrin- gend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd ſchwar- zes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht unterſcheiden. Ein leidenſchaftlicher, ein düſterer Geiſt beſeelte dieſe unregelmäßig auf und abſteigenden Melo- dieen, ſo fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne waren. Erſtaunt erhob ſich Theobald von ſeinem Sitz, mit Entſetzen trat ihm die Schweſter nahe. „Wir haben eine Wahnſinnige gefunden,“ ſagte ſie, „mache, daß wir fortkommen.“ „Um Gotteswillen bleib!“ rief Theobald, durch das Ungewöhnliche des Auftritts zu einer außerordentlichen Kraft geſteigert: „Liebe Schweſter, du warſt doch ſonſt keine von denen, die für das Seltene, was ſie nicht begreifen, gleich einen ver- pönenden Namen wiſſen. Ja, und wär es auch eine Wahnſinnige, ſie wird uns nicht ſchaden. Ich kenne ſie und ſie kennt mich. Du ſollſt noch Vieles hören.“ Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Geſang gekommen war, welcher indeſſen wieder aufgehört hatte. Die Schweſter, ihren Ohren kaum trauend, ſah ihm nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußerſter Be- ſorgniß. So blieb ſie eine geraume Weile, dann rief

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/296
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/296>, abgerufen am 22.07.2024.