sich schnell zurück, die Jungfrau selber entfernte sich mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo sie hinter den Mauern verschwand. In diesem Au- genblick kam Adelheid rüstig den Wall herunterge- sprungen, allein sie hielt mit Einemmal betroffen an, denn der alte Gesang schwang sich mächtig, durchdrin- gend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd schwar- zes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht unterscheiden. Ein leidenschaftlicher, ein düsterer Geist beseelte diese unregelmäßig auf und absteigenden Melo- dieen, so fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne waren. Erstaunt erhob sich Theobald von seinem Sitz, mit Entsetzen trat ihm die Schwester nahe. "Wir haben eine Wahnsinnige gefunden," sagte sie, "mache, daß wir fortkommen." "Um Gotteswillen bleib!" rief Theobald, durch das Ungewöhnliche des Auftritts zu einer außerordentlichen Kraft gesteigert: "Liebe Schwester, du warst doch sonst keine von denen, die für das Seltene, was sie nicht begreifen, gleich einen ver- pönenden Namen wissen. Ja, und wär es auch eine Wahnsinnige, sie wird uns nicht schaden. Ich kenne sie und sie kennt mich. Du sollst noch Vieles hören." Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Gesang gekommen war, welcher indessen wieder aufgehört hatte. Die Schwester, ihren Ohren kaum trauend, sah ihm nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußerster Be- sorgniß. So blieb sie eine geraume Weile, dann rief
ſich ſchnell zurück, die Jungfrau ſelber entfernte ſich mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo ſie hinter den Mauern verſchwand. In dieſem Au- genblick kam Adelheid rüſtig den Wall herunterge- ſprungen, allein ſie hielt mit Einemmal betroffen an, denn der alte Geſang ſchwang ſich mächtig, durchdrin- gend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd ſchwar- zes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht unterſcheiden. Ein leidenſchaftlicher, ein düſterer Geiſt beſeelte dieſe unregelmäßig auf und abſteigenden Melo- dieen, ſo fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne waren. Erſtaunt erhob ſich Theobald von ſeinem Sitz, mit Entſetzen trat ihm die Schweſter nahe. „Wir haben eine Wahnſinnige gefunden,“ ſagte ſie, „mache, daß wir fortkommen.“ „Um Gotteswillen bleib!“ rief Theobald, durch das Ungewöhnliche des Auftritts zu einer außerordentlichen Kraft geſteigert: „Liebe Schweſter, du warſt doch ſonſt keine von denen, die für das Seltene, was ſie nicht begreifen, gleich einen ver- pönenden Namen wiſſen. Ja, und wär es auch eine Wahnſinnige, ſie wird uns nicht ſchaden. Ich kenne ſie und ſie kennt mich. Du ſollſt noch Vieles hören.“ Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Geſang gekommen war, welcher indeſſen wieder aufgehört hatte. Die Schweſter, ihren Ohren kaum trauend, ſah ihm nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußerſter Be- ſorgniß. So blieb ſie eine geraume Weile, dann rief
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ſich ſchnell zurück, die Jungfrau ſelber entfernte ſich
mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo
ſie hinter den Mauern verſchwand. In dieſem Au-
genblick kam Adelheid rüſtig den Wall herunterge-
ſprungen, allein ſie hielt mit Einemmal betroffen an,
denn der alte Geſang ſchwang ſich mächtig, durchdrin-
gend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd ſchwar-
zes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht
unterſcheiden. Ein leidenſchaftlicher, ein düſterer Geiſt
beſeelte dieſe unregelmäßig auf und abſteigenden Melo-
dieen, ſo fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne
waren. Erſtaunt erhob ſich Theobald von ſeinem
Sitz, mit Entſetzen trat ihm die Schweſter nahe. „Wir
haben eine Wahnſinnige gefunden,“ ſagte ſie, „mache,
daß wir fortkommen.“ „Um Gotteswillen bleib!“ rief
Theobald, durch das Ungewöhnliche des Auftritts
zu einer außerordentlichen Kraft geſteigert: „Liebe
Schweſter, du warſt doch ſonſt keine von denen, die für
das Seltene, was ſie nicht begreifen, gleich einen ver-
pönenden Namen wiſſen. Ja, und wär es auch eine
Wahnſinnige, ſie wird uns nicht ſchaden. Ich kenne
ſie und ſie kennt mich. Du ſollſt noch Vieles hören.“
Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Geſang
gekommen war, welcher indeſſen wieder aufgehört hatte.
Die Schweſter, ihren Ohren kaum trauend, ſah ihm
nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußerſter Be-
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/296>, abgerufen am 16.02.2025.
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