schrack, ohne zu wissen warum. Ein besorgter Ge- danke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück hatte sie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geschärf- tem Ohr, sie glaubte schon sich getäuscht zu haben, aber in diesem Augenblick hörte sie dieselbe Stimme deutlicher und allem Anscheine nach innerhalb des Mauerwerks auf's Neue sich erheben, den schwermü- thigen Klängen einer Aeolsharfe nicht unähnlich. In einem gemischten Gefühle von feierlicher Rührung und einer unbestimmten Furcht, als wären Geisterlaute hier wach geworden, wagte die Ueberraschte kaum ei- nige Schritte vorwärts und stand wieder still bei je- dem neuen Anschwellen des immer reizendern Gesan- ges, und während unwillkürlich ihre Lippen sich zu dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung beweg- ten, fühlte sie doch fast zu gleicher Zeit ihren Körper von leisem Schauder überlaufen. Jezt verstummte die räthselhafte Stimme; nur das Rauschen des Windes in dem dürren Laube, der leise Fall eines da und dort losbröckelnden Gesteins, oder der Flug eines Vogels unterbrach die todtenhafte Stille des Orts. Das Mädchen stand eine geraume Zeit nachdenklich, unent- schlossen, stets in bänglicher Erwartung, daß die un- sichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke her- vorkommen werde, ja sie machte sich bereits auf eine kecke Anrede gefaßt, wenn die Erscheinung sich blicken lassen sollte. Da rauschten plötzlich starke, hastige, aber wohlbekannte Tritte. Theobald kam athemlos
ſchrack, ohne zu wiſſen warum. Ein beſorgter Ge- danke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück hatte ſie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geſchärf- tem Ohr, ſie glaubte ſchon ſich getäuſcht zu haben, aber in dieſem Augenblick hörte ſie dieſelbe Stimme deutlicher und allem Anſcheine nach innerhalb des Mauerwerks auf’s Neue ſich erheben, den ſchwermü- thigen Klängen einer Aeolsharfe nicht unähnlich. In einem gemiſchten Gefühle von feierlicher Rührung und einer unbeſtimmten Furcht, als wären Geiſterlaute hier wach geworden, wagte die Ueberraſchte kaum ei- nige Schritte vorwärts und ſtand wieder ſtill bei je- dem neuen Anſchwellen des immer reizendern Geſan- ges, und während unwillkürlich ihre Lippen ſich zu dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung beweg- ten, fühlte ſie doch faſt zu gleicher Zeit ihren Körper von leiſem Schauder überlaufen. Jezt verſtummte die räthſelhafte Stimme; nur das Rauſchen des Windes in dem dürren Laube, der leiſe Fall eines da und dort losbröckelnden Geſteins, oder der Flug eines Vogels unterbrach die todtenhafte Stille des Orts. Das Mädchen ſtand eine geraume Zeit nachdenklich, unent- ſchloſſen, ſtets in bänglicher Erwartung, daß die un- ſichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke her- vorkommen werde, ja ſie machte ſich bereits auf eine kecke Anrede gefaßt, wenn die Erſcheinung ſich blicken laſſen ſollte. Da rauſchten plötzlich ſtarke, haſtige, aber wohlbekannte Tritte. Theobald kam athemlos
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0291"n="283"/>ſchrack, ohne zu wiſſen warum. Ein beſorgter Ge-<lb/>
danke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück<lb/>
hatte ſie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geſchärf-<lb/>
tem Ohr, ſie glaubte ſchon ſich getäuſcht zu haben,<lb/>
aber in dieſem Augenblick hörte ſie dieſelbe Stimme<lb/>
deutlicher und allem Anſcheine nach innerhalb des<lb/>
Mauerwerks auf’s Neue ſich erheben, den ſchwermü-<lb/>
thigen Klängen einer Aeolsharfe nicht unähnlich. In<lb/>
einem gemiſchten Gefühle von feierlicher Rührung und<lb/>
einer unbeſtimmten Furcht, als wären Geiſterlaute<lb/>
hier wach geworden, wagte die Ueberraſchte kaum ei-<lb/>
nige Schritte vorwärts und ſtand wieder ſtill bei je-<lb/>
dem neuen Anſchwellen des immer reizendern Geſan-<lb/>
ges, und während unwillkürlich ihre Lippen ſich zu<lb/>
dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung beweg-<lb/>
ten, fühlte ſie doch faſt zu gleicher Zeit ihren Körper<lb/>
von leiſem Schauder überlaufen. Jezt verſtummte die<lb/>
räthſelhafte Stimme; nur das Rauſchen des Windes<lb/>
in dem dürren Laube, der leiſe Fall eines da und<lb/>
dort losbröckelnden Geſteins, oder der Flug eines Vogels<lb/>
unterbrach die todtenhafte Stille des Orts. Das<lb/>
Mädchen ſtand eine geraume Zeit nachdenklich, unent-<lb/>ſchloſſen, ſtets in bänglicher Erwartung, daß die un-<lb/>ſichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke her-<lb/>
vorkommen werde, ja ſie machte ſich bereits auf eine<lb/>
kecke Anrede gefaßt, wenn die Erſcheinung ſich blicken<lb/>
laſſen ſollte. Da rauſchten plötzlich ſtarke, haſtige,<lb/>
aber wohlbekannte Tritte. <hirendition="#g">Theobald</hi> kam athemlos<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[283/0291]
ſchrack, ohne zu wiſſen warum. Ein beſorgter Ge-
danke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück
hatte ſie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geſchärf-
tem Ohr, ſie glaubte ſchon ſich getäuſcht zu haben,
aber in dieſem Augenblick hörte ſie dieſelbe Stimme
deutlicher und allem Anſcheine nach innerhalb des
Mauerwerks auf’s Neue ſich erheben, den ſchwermü-
thigen Klängen einer Aeolsharfe nicht unähnlich. In
einem gemiſchten Gefühle von feierlicher Rührung und
einer unbeſtimmten Furcht, als wären Geiſterlaute
hier wach geworden, wagte die Ueberraſchte kaum ei-
nige Schritte vorwärts und ſtand wieder ſtill bei je-
dem neuen Anſchwellen des immer reizendern Geſan-
ges, und während unwillkürlich ihre Lippen ſich zu
dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung beweg-
ten, fühlte ſie doch faſt zu gleicher Zeit ihren Körper
von leiſem Schauder überlaufen. Jezt verſtummte die
räthſelhafte Stimme; nur das Rauſchen des Windes
in dem dürren Laube, der leiſe Fall eines da und
dort losbröckelnden Geſteins, oder der Flug eines Vogels
unterbrach die todtenhafte Stille des Orts. Das
Mädchen ſtand eine geraume Zeit nachdenklich, unent-
ſchloſſen, ſtets in bänglicher Erwartung, daß die un-
ſichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke her-
vorkommen werde, ja ſie machte ſich bereits auf eine
kecke Anrede gefaßt, wenn die Erſcheinung ſich blicken
laſſen ſollte. Da rauſchten plötzlich ſtarke, haſtige,
aber wohlbekannte Tritte. Theobald kam athemlos
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/291>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.