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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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schrack, ohne zu wissen warum. Ein besorgter Ge-
danke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück
hatte sie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geschärf-
tem Ohr, sie glaubte schon sich getäuscht zu haben,
aber in diesem Augenblick hörte sie dieselbe Stimme
deutlicher und allem Anscheine nach innerhalb des
Mauerwerks auf's Neue sich erheben, den schwermü-
thigen Klängen einer Aeolsharfe nicht unähnlich. In
einem gemischten Gefühle von feierlicher Rührung und
einer unbestimmten Furcht, als wären Geisterlaute
hier wach geworden, wagte die Ueberraschte kaum ei-
nige Schritte vorwärts und stand wieder still bei je-
dem neuen Anschwellen des immer reizendern Gesan-
ges, und während unwillkürlich ihre Lippen sich zu
dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung beweg-
ten, fühlte sie doch fast zu gleicher Zeit ihren Körper
von leisem Schauder überlaufen. Jezt verstummte die
räthselhafte Stimme; nur das Rauschen des Windes
in dem dürren Laube, der leise Fall eines da und
dort losbröckelnden Gesteins, oder der Flug eines Vogels
unterbrach die todtenhafte Stille des Orts. Das
Mädchen stand eine geraume Zeit nachdenklich, unent-
schlossen, stets in bänglicher Erwartung, daß die un-
sichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke her-
vorkommen werde, ja sie machte sich bereits auf eine
kecke Anrede gefaßt, wenn die Erscheinung sich blicken
lassen sollte. Da rauschten plötzlich starke, hastige,
aber wohlbekannte Tritte. Theobald kam athemlos

ſchrack, ohne zu wiſſen warum. Ein beſorgter Ge-
danke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück
hatte ſie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geſchärf-
tem Ohr, ſie glaubte ſchon ſich getäuſcht zu haben,
aber in dieſem Augenblick hörte ſie dieſelbe Stimme
deutlicher und allem Anſcheine nach innerhalb des
Mauerwerks auf’s Neue ſich erheben, den ſchwermü-
thigen Klängen einer Aeolsharfe nicht unähnlich. In
einem gemiſchten Gefühle von feierlicher Rührung und
einer unbeſtimmten Furcht, als wären Geiſterlaute
hier wach geworden, wagte die Ueberraſchte kaum ei-
nige Schritte vorwärts und ſtand wieder ſtill bei je-
dem neuen Anſchwellen des immer reizendern Geſan-
ges, und während unwillkürlich ihre Lippen ſich zu
dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung beweg-
ten, fühlte ſie doch faſt zu gleicher Zeit ihren Körper
von leiſem Schauder überlaufen. Jezt verſtummte die
räthſelhafte Stimme; nur das Rauſchen des Windes
in dem dürren Laube, der leiſe Fall eines da und
dort losbröckelnden Geſteins, oder der Flug eines Vogels
unterbrach die todtenhafte Stille des Orts. Das
Mädchen ſtand eine geraume Zeit nachdenklich, unent-
ſchloſſen, ſtets in bänglicher Erwartung, daß die un-
ſichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke her-
vorkommen werde, ja ſie machte ſich bereits auf eine
kecke Anrede gefaßt, wenn die Erſcheinung ſich blicken
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aber wohlbekannte Tritte. Theobald kam athemlos

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[283/0291] ſchrack, ohne zu wiſſen warum. Ein beſorgter Ge- danke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück hatte ſie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geſchärf- tem Ohr, ſie glaubte ſchon ſich getäuſcht zu haben, aber in dieſem Augenblick hörte ſie dieſelbe Stimme deutlicher und allem Anſcheine nach innerhalb des Mauerwerks auf’s Neue ſich erheben, den ſchwermü- thigen Klängen einer Aeolsharfe nicht unähnlich. In einem gemiſchten Gefühle von feierlicher Rührung und einer unbeſtimmten Furcht, als wären Geiſterlaute hier wach geworden, wagte die Ueberraſchte kaum ei- nige Schritte vorwärts und ſtand wieder ſtill bei je- dem neuen Anſchwellen des immer reizendern Geſan- ges, und während unwillkürlich ihre Lippen ſich zu dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung beweg- ten, fühlte ſie doch faſt zu gleicher Zeit ihren Körper von leiſem Schauder überlaufen. Jezt verſtummte die räthſelhafte Stimme; nur das Rauſchen des Windes in dem dürren Laube, der leiſe Fall eines da und dort losbröckelnden Geſteins, oder der Flug eines Vogels unterbrach die todtenhafte Stille des Orts. Das Mädchen ſtand eine geraume Zeit nachdenklich, unent- ſchloſſen, ſtets in bänglicher Erwartung, daß die un- ſichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke her- vorkommen werde, ja ſie machte ſich bereits auf eine kecke Anrede gefaßt, wenn die Erſcheinung ſich blicken laſſen ſollte. Da rauſchten plötzlich ſtarke, haſtige, aber wohlbekannte Tritte. Theobald kam athemlos

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/291>, abgerufen am 22.07.2024.