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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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freieren Stunden war das Gefühl seines Elends nur
um so stärker; die Phantasien der Fieberhitze sezten ihr
grelles Spiel auch im Wachen fort und schleuderten
den Gequälten in unbarmherzigem Wechsel hin und
her. Bald nahte sich Constanze seinem Lager, und
wenn sein inniger Klageton ihr Mitleid, ihre Liebe an-
sprach, wenn sich die edle Gestalt so eben über den Lei-
denden herzusenken schien, floh sie entsezt und zürnend
wieder weg; bald zeigte sich die verstoßene Agnes an
der Thür, den stillen Blick betrübt auf ihn gerichtet,
bis sie sich nicht mehr hielt und lautweinend neben
ihm auf die Kniee stürzte, seine Hand mit tausend Küs-
sen bedeckte und er die arme Reuevolle gleichfalls lieb-
reich an sich herzuziehen genöthigt war.

Dergleichen Vorstellungen, worin sich der Rest
seiner Neigung zu jenem verkannten liebenswürdigen
Kinde nun auf dem durch Krankheit und Schwäche er-
weichten Grunde seines Gemüthes sonderbar und leb-
haft abspiegelte, wiederholten sich immer häufiger und
waren um so weniger abzuweisen, da sie ihm zunächst
durch einen seltsamen Zufall von Außen aufgedrungen
worden waren. Denn eines Morgens erwachte er vor
Tag aus einem unruhigen Halbschlafe an einem weib-
lichen Gesang, der aus der Küche des Wärters unter
seinem Fenster zu kommen schien. Der Inhalt des
Lieds, so wenig es ihm selber gelten konnte, traf ihn
im Innersten der Seele, und die Melodie klang unend-
lich rührend durch das Schweigen der dunkeln Frühe,

freieren Stunden war das Gefühl ſeines Elends nur
um ſo ſtärker; die Phantaſien der Fieberhitze ſezten ihr
grelles Spiel auch im Wachen fort und ſchleuderten
den Gequälten in unbarmherzigem Wechſel hin und
her. Bald nahte ſich Conſtanze ſeinem Lager, und
wenn ſein inniger Klageton ihr Mitleid, ihre Liebe an-
ſprach, wenn ſich die edle Geſtalt ſo eben über den Lei-
denden herzuſenken ſchien, floh ſie entſezt und zürnend
wieder weg; bald zeigte ſich die verſtoßene Agnes an
der Thür, den ſtillen Blick betrübt auf ihn gerichtet,
bis ſie ſich nicht mehr hielt und lautweinend neben
ihm auf die Kniee ſtürzte, ſeine Hand mit tauſend Küſ-
ſen bedeckte und er die arme Reuevolle gleichfalls lieb-
reich an ſich herzuziehen genöthigt war.

Dergleichen Vorſtellungen, worin ſich der Reſt
ſeiner Neigung zu jenem verkannten liebenswürdigen
Kinde nun auf dem durch Krankheit und Schwäche er-
weichten Grunde ſeines Gemüthes ſonderbar und leb-
haft abſpiegelte, wiederholten ſich immer häufiger und
waren um ſo weniger abzuweiſen, da ſie ihm zunächſt
durch einen ſeltſamen Zufall von Außen aufgedrungen
worden waren. Denn eines Morgens erwachte er vor
Tag aus einem unruhigen Halbſchlafe an einem weib-
lichen Geſang, der aus der Küche des Wärters unter
ſeinem Fenſter zu kommen ſchien. Der Inhalt des
Lieds, ſo wenig es ihm ſelber gelten konnte, traf ihn
im Innerſten der Seele, und die Melodie klang unend-
lich rührend durch das Schweigen der dunkeln Frühe,

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[265/0273] freieren Stunden war das Gefühl ſeines Elends nur um ſo ſtärker; die Phantaſien der Fieberhitze ſezten ihr grelles Spiel auch im Wachen fort und ſchleuderten den Gequälten in unbarmherzigem Wechſel hin und her. Bald nahte ſich Conſtanze ſeinem Lager, und wenn ſein inniger Klageton ihr Mitleid, ihre Liebe an- ſprach, wenn ſich die edle Geſtalt ſo eben über den Lei- denden herzuſenken ſchien, floh ſie entſezt und zürnend wieder weg; bald zeigte ſich die verſtoßene Agnes an der Thür, den ſtillen Blick betrübt auf ihn gerichtet, bis ſie ſich nicht mehr hielt und lautweinend neben ihm auf die Kniee ſtürzte, ſeine Hand mit tauſend Küſ- ſen bedeckte und er die arme Reuevolle gleichfalls lieb- reich an ſich herzuziehen genöthigt war. Dergleichen Vorſtellungen, worin ſich der Reſt ſeiner Neigung zu jenem verkannten liebenswürdigen Kinde nun auf dem durch Krankheit und Schwäche er- weichten Grunde ſeines Gemüthes ſonderbar und leb- haft abſpiegelte, wiederholten ſich immer häufiger und waren um ſo weniger abzuweiſen, da ſie ihm zunächſt durch einen ſeltſamen Zufall von Außen aufgedrungen worden waren. Denn eines Morgens erwachte er vor Tag aus einem unruhigen Halbſchlafe an einem weib- lichen Geſang, der aus der Küche des Wärters unter ſeinem Fenſter zu kommen ſchien. Der Inhalt des Lieds, ſo wenig es ihm ſelber gelten konnte, traf ihn im Innerſten der Seele, und die Melodie klang unend- lich rührend durch das Schweigen der dunkeln Frühe,

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/273>, abgerufen am 22.07.2024.