schlecht unlesbar gewordenen Chiffern, aber es war an- ders mit ihr beschlossen, und so konnte oder wollte sie auch den Trost nicht von sich abwehren, daß ein jugend- licher Epheu sich liebevoll an ihr hinanschlinge.
Zu entschuldigen ist es nun, wenn der Freund einen Theil jener Idee mit frommem Sinne auf ein Gebilde seiner Phantasie übertrug, und gewissermaßen eine Apotheose jenes unglücklichen Fürsten liefern wollte, ohne weder zu hoffen noch zu fürchten, daß Andere, denen er seinen Versuch vorgeführt, auch nur entfern- ter Weise geneigt seyn könnten, irgend eine -- würdige oder unwürdige -- Deutung zu machen.
Es war eine überaus klare und schöne Winter- nacht. Die Glocke schlug so eben eilf. Im Zarlin'- schen Hause war Alles schon stille geworden, nur das Schlafzimmer der Gräfin finden wir noch erhellt. Con- stanze, im weißen Nachtgewande, allein vor einem Tischchen bei dem Bette sitzend, ist beschäftigt, die schönen Haare loszuwickeln, das Ohrgehänge und die schmale Perlschnur abzulegen, die ihrem Halse immer so einfach reizend gestanden. Sie hob die Schnur nachdenklich spielend am kleinen Finger gegen das Licht, und wenn wir recht auf ihrer Stirne lesen, so ist es Theobald, an den sie gegenwärtig denkt. Scheint es doch, als wüßte sie, daß sie ihm diese Gabe verdanke, daß das Geschenk nur vermittelst eines künstlichen Umwegs aus
ſchlecht unlesbar gewordenen Chiffern, aber es war an- ders mit ihr beſchloſſen, und ſo konnte oder wollte ſie auch den Troſt nicht von ſich abwehren, daß ein jugend- licher Epheu ſich liebevoll an ihr hinanſchlinge.
Zu entſchuldigen iſt es nun, wenn der Freund einen Theil jener Idee mit frommem Sinne auf ein Gebilde ſeiner Phantaſie übertrug, und gewiſſermaßen eine Apotheoſe jenes unglücklichen Fürſten liefern wollte, ohne weder zu hoffen noch zu fürchten, daß Andere, denen er ſeinen Verſuch vorgeführt, auch nur entfern- ter Weiſe geneigt ſeyn könnten, irgend eine — würdige oder unwürdige — Deutung zu machen.
Es war eine überaus klare und ſchöne Winter- nacht. Die Glocke ſchlug ſo eben eilf. Im Zarlin’- ſchen Hauſe war Alles ſchon ſtille geworden, nur das Schlafzimmer der Gräfin finden wir noch erhellt. Con- ſtanze, im weißen Nachtgewande, allein vor einem Tiſchchen bei dem Bette ſitzend, iſt beſchäftigt, die ſchönen Haare loszuwickeln, das Ohrgehänge und die ſchmale Perlſchnur abzulegen, die ihrem Halſe immer ſo einfach reizend geſtanden. Sie hob die Schnur nachdenklich ſpielend am kleinen Finger gegen das Licht, und wenn wir recht auf ihrer Stirne leſen, ſo iſt es Theobald, an den ſie gegenwärtig denkt. Scheint es doch, als wüßte ſie, daß ſie ihm dieſe Gabe verdanke, daß das Geſchenk nur vermittelſt eines künſtlichen Umwegs aus
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ſchlecht unlesbar gewordenen Chiffern, aber es war an-
ders mit ihr beſchloſſen, und ſo konnte oder wollte ſie
auch den Troſt nicht von ſich abwehren, daß ein jugend-
licher Epheu ſich liebevoll an ihr hinanſchlinge.
Zu entſchuldigen iſt es nun, wenn der Freund einen
Theil jener Idee mit frommem Sinne auf ein Gebilde
ſeiner Phantaſie übertrug, und gewiſſermaßen eine
Apotheoſe jenes unglücklichen Fürſten liefern wollte,
ohne weder zu hoffen noch zu fürchten, daß Andere,
denen er ſeinen Verſuch vorgeführt, auch nur entfern-
ter Weiſe geneigt ſeyn könnten, irgend eine — würdige
oder unwürdige — Deutung zu machen.
Es war eine überaus klare und ſchöne Winter-
nacht. Die Glocke ſchlug ſo eben eilf. Im Zarlin’-
ſchen Hauſe war Alles ſchon ſtille geworden, nur das
Schlafzimmer der Gräfin finden wir noch erhellt. Con-
ſtanze, im weißen Nachtgewande, allein vor einem
Tiſchchen bei dem Bette ſitzend, iſt beſchäftigt, die ſchönen
Haare loszuwickeln, das Ohrgehänge und die ſchmale
Perlſchnur abzulegen, die ihrem Halſe immer ſo einfach
reizend geſtanden. Sie hob die Schnur nachdenklich
ſpielend am kleinen Finger gegen das Licht, und wenn
wir recht auf ihrer Stirne leſen, ſo iſt es Theobald,
an den ſie gegenwärtig denkt. Scheint es doch, als
wüßte ſie, daß ſie ihm dieſe Gabe verdanke, daß das
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/224>, abgerufen am 09.01.2025.
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