ben. Lebendig, ernst und wahrhaft stehen sie noch alle vor meinem Geiste, die Gestalten unserer Einbil- dung, und wem ich nur Einen Strahl der dichteri- schen Sonne, die uns damals erwärmte, so recht gül- den, wie sie war, in die Seele spielen könnte, der würde mir wenigstens ein heiteres Wohlgefallen nicht versagen, er würde selbst dem reiferen Manne es verzeihen, wenn er noch einen müßigen Spaziergang in die duftige Landschaft jener Poesie machte und so- gar ein Stückchen alten Gesteins von der geliebten Ruine mitbrachte. Doch zur Sache. Wir erfanden für unsere Dichtung einen außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden, eine abgeschlossene Insel, wor- auf ein kräftiges Heldenvolk, doch in verschiedene Stämme, Grenzen und Charakter-Abstufungen getheilt, aber mit so ziemlich gleichförmiger Religion, gewohnt haben soll. Die Insel hieß Orplid, und ihre Lage dachte man sich in dem stillen Ozean zwischen Neu- Seeland und Süd-Amerika. Orplid hieß vorzugsweise die Stadt des bedeutendsten Königreichs: sie soll von göttlicher Gründung gewesen seyn und die Göttin Weyla, von welcher auch der Hauptfluß des Eilands den Namen hatte, war ihre besondere Beschützerin. Stückweise und nach den wichtigsten Zeiträumen er- zählten wir uns die Geschichte dieser Völker. An merkwürdigen Kriegen und Abenteuern fehlte es nicht. Unsere Götterlehre streifte hie und da an die griechi- sche, behielt aber im Ganzen ihr Eigenthümliches;
ben. Lebendig, ernſt und wahrhaft ſtehen ſie noch alle vor meinem Geiſte, die Geſtalten unſerer Einbil- dung, und wem ich nur Einen Strahl der dichteri- ſchen Sonne, die uns damals erwärmte, ſo recht gül- den, wie ſie war, in die Seele ſpielen könnte, der würde mir wenigſtens ein heiteres Wohlgefallen nicht verſagen, er würde ſelbſt dem reiferen Manne es verzeihen, wenn er noch einen müßigen Spaziergang in die duftige Landſchaft jener Poeſie machte und ſo- gar ein Stückchen alten Geſteins von der geliebten Ruine mitbrachte. Doch zur Sache. Wir erfanden für unſere Dichtung einen außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden, eine abgeſchloſſene Inſel, wor- auf ein kräftiges Heldenvolk, doch in verſchiedene Stämme, Grenzen und Charakter-Abſtufungen getheilt, aber mit ſo ziemlich gleichförmiger Religion, gewohnt haben ſoll. Die Inſel hieß Orplid, und ihre Lage dachte man ſich in dem ſtillen Ozean zwiſchen Neu- Seeland und Süd-Amerika. Orplid hieß vorzugsweiſe die Stadt des bedeutendſten Königreichs: ſie ſoll von göttlicher Gründung geweſen ſeyn und die Göttin Weyla, von welcher auch der Hauptfluß des Eilands den Namen hatte, war ihre beſondere Beſchützerin. Stückweiſe und nach den wichtigſten Zeiträumen er- zählten wir uns die Geſchichte dieſer Völker. An merkwürdigen Kriegen und Abenteuern fehlte es nicht. Unſere Götterlehre ſtreifte hie und da an die griechi- ſche, behielt aber im Ganzen ihr Eigenthümliches;
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ben. Lebendig, ernſt und wahrhaft ſtehen ſie noch
alle vor meinem Geiſte, die Geſtalten unſerer Einbil-
dung, und wem ich nur Einen Strahl der dichteri-
ſchen Sonne, die uns damals erwärmte, ſo recht gül-
den, wie ſie war, in die Seele ſpielen könnte, der
würde mir wenigſtens ein heiteres Wohlgefallen nicht
verſagen, er würde ſelbſt dem reiferen Manne es
verzeihen, wenn er noch einen müßigen Spaziergang
in die duftige Landſchaft jener Poeſie machte und ſo-
gar ein Stückchen alten Geſteins von der geliebten
Ruine mitbrachte. Doch zur Sache. Wir erfanden
für unſere Dichtung einen außerhalb der bekannten
Welt gelegenen Boden, eine abgeſchloſſene Inſel, wor-
auf ein kräftiges Heldenvolk, doch in verſchiedene
Stämme, Grenzen und Charakter-Abſtufungen getheilt,
aber mit ſo ziemlich gleichförmiger Religion, gewohnt
haben ſoll. Die Inſel hieß Orplid, und ihre Lage
dachte man ſich in dem ſtillen Ozean zwiſchen Neu-
Seeland und Süd-Amerika. Orplid hieß vorzugsweiſe
die Stadt des bedeutendſten Königreichs: ſie ſoll von
göttlicher Gründung geweſen ſeyn und die Göttin
Weyla, von welcher auch der Hauptfluß des Eilands
den Namen hatte, war ihre beſondere Beſchützerin.
Stückweiſe und nach den wichtigſten Zeiträumen er-
zählten wir uns die Geſchichte dieſer Völker. An
merkwürdigen Kriegen und Abenteuern fehlte es nicht.
Unſere Götterlehre ſtreifte hie und da an die griechi-
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/151>, abgerufen am 24.11.2024.
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