Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

auf die Zehe gestüzt, die Kreide ansezte. Das beglei-
tende Adagio der Violine schien die Hand gefällig auf
der glatten Fläche hinzuführen. Bald erkannte man
die Umrisse eines lieblichen Knabenkopfs, welcher mit
dringenden Blicken bittend an etwas hinaufsieht. Die-
ser Ausdruck des Affekts war von der Art, daß er in
der vorgreifenden Phantasie des Zuschauers beinahe
jezt schon ein paar flehend ausgestreckte Arme und
Hände hervorrufen mußte. Doch die Zeichnerin hielt
inne, und unter einem Allegro zurücktretend, beobach-
tete sie, während ihr reizender Leib sich hin und her
wiegte, das angefangene Werk noch eine kleine Weile.
Mit einer Verbeugung empfing Tillsen die Kreide
aus ihrer Hand und ohne viel Umstände stellte dieser
Meister mit raschen Zügen den oberen kraftvollen
Körper eines Mannes in drohender Geberde dem
Mitleid fordernden Gesichtchen gegenüber. Die Begierde
der Gesellschaft wuchs mit jeder Linie; es ließen sich
schon einige Beifall rufende Stimmen vernehmen, es
hieß: der junge Prinz Arthur ist's, wie er vor sei-
nem Mörder steht! Aber der freudigste Applaus ent-
stand, als Constanze, nachdem Tillsen für Theo-
bald
den Platz geräumt, vom Eifer ihres Gedankens
hingerissen, dem Leztern in den Weg sprang und nun
die beiden großen Gestalten mit trefflich mimischer
Heftigkeit um das Vorrecht der Kreide rangen, die
denn zulezt in zwei geschickte Theile brach, worauf
das Paar bei lebhafter Musik ein verschlungenes Duo

auf die Zehe geſtüzt, die Kreide anſezte. Das beglei-
tende Adagio der Violine ſchien die Hand gefällig auf
der glatten Fläche hinzuführen. Bald erkannte man
die Umriſſe eines lieblichen Knabenkopfs, welcher mit
dringenden Blicken bittend an etwas hinaufſieht. Die-
ſer Ausdruck des Affekts war von der Art, daß er in
der vorgreifenden Phantaſie des Zuſchauers beinahe
jezt ſchon ein paar flehend ausgeſtreckte Arme und
Hände hervorrufen mußte. Doch die Zeichnerin hielt
inne, und unter einem Allegro zurücktretend, beobach-
tete ſie, während ihr reizender Leib ſich hin und her
wiegte, das angefangene Werk noch eine kleine Weile.
Mit einer Verbeugung empfing Tillſen die Kreide
aus ihrer Hand und ohne viel Umſtände ſtellte dieſer
Meiſter mit raſchen Zügen den oberen kraftvollen
Körper eines Mannes in drohender Geberde dem
Mitleid fordernden Geſichtchen gegenüber. Die Begierde
der Geſellſchaft wuchs mit jeder Linie; es ließen ſich
ſchon einige Beifall rufende Stimmen vernehmen, es
hieß: der junge Prinz Arthur iſt’s, wie er vor ſei-
nem Mörder ſteht! Aber der freudigſte Applaus ent-
ſtand, als Conſtanze, nachdem Tillſen für Theo-
bald
den Platz geräumt, vom Eifer ihres Gedankens
hingeriſſen, dem Leztern in den Weg ſprang und nun
die beiden großen Geſtalten mit trefflich mimiſcher
Heftigkeit um das Vorrecht der Kreide rangen, die
denn zulezt in zwei geſchickte Theile brach, worauf
das Paar bei lebhafter Muſik ein verſchlungenes Duo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0114" n="106"/>
auf die Zehe ge&#x017F;tüzt, die Kreide an&#x017F;ezte. Das beglei-<lb/>
tende Adagio der Violine &#x017F;chien die Hand gefällig auf<lb/>
der glatten Fläche hinzuführen. Bald erkannte man<lb/>
die Umri&#x017F;&#x017F;e eines lieblichen Knabenkopfs, welcher mit<lb/>
dringenden Blicken bittend an etwas hinauf&#x017F;ieht. Die-<lb/>
&#x017F;er Ausdruck des Affekts war von der Art, daß er in<lb/>
der vorgreifenden Phanta&#x017F;ie des Zu&#x017F;chauers beinahe<lb/>
jezt &#x017F;chon ein paar flehend ausge&#x017F;treckte Arme und<lb/>
Hände hervorrufen mußte. Doch die Zeichnerin hielt<lb/>
inne, und unter einem Allegro zurücktretend, beobach-<lb/>
tete &#x017F;ie, während ihr reizender Leib &#x017F;ich hin und her<lb/>
wiegte, das angefangene Werk noch eine kleine Weile.<lb/>
Mit einer Verbeugung empfing <hi rendition="#g">Till&#x017F;en</hi> die Kreide<lb/>
aus ihrer Hand und ohne viel Um&#x017F;tände &#x017F;tellte die&#x017F;er<lb/>
Mei&#x017F;ter mit ra&#x017F;chen Zügen den oberen kraftvollen<lb/>
Körper eines Mannes in drohender Geberde dem<lb/>
Mitleid fordernden Ge&#x017F;ichtchen gegenüber. Die Begierde<lb/>
der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft wuchs mit jeder Linie; es ließen &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;chon einige Beifall rufende Stimmen vernehmen, es<lb/>
hieß: der junge Prinz <hi rendition="#g">Arthur</hi> i&#x017F;t&#x2019;s, wie er vor &#x017F;ei-<lb/>
nem Mörder &#x017F;teht! Aber der freudig&#x017F;te Applaus ent-<lb/>
&#x017F;tand, als <hi rendition="#g">Con&#x017F;tanze</hi>, nachdem <hi rendition="#g">Till&#x017F;en</hi> für <hi rendition="#g">Theo-<lb/>
bald</hi> den Platz geräumt, vom Eifer ihres Gedankens<lb/>
hingeri&#x017F;&#x017F;en, dem Leztern in den Weg &#x017F;prang und nun<lb/>
die beiden großen Ge&#x017F;talten mit trefflich mimi&#x017F;cher<lb/>
Heftigkeit um das Vorrecht der Kreide rangen, die<lb/>
denn zulezt in zwei ge&#x017F;chickte Theile brach, worauf<lb/>
das Paar bei lebhafter Mu&#x017F;ik ein ver&#x017F;chlungenes Duo<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0114] auf die Zehe geſtüzt, die Kreide anſezte. Das beglei- tende Adagio der Violine ſchien die Hand gefällig auf der glatten Fläche hinzuführen. Bald erkannte man die Umriſſe eines lieblichen Knabenkopfs, welcher mit dringenden Blicken bittend an etwas hinaufſieht. Die- ſer Ausdruck des Affekts war von der Art, daß er in der vorgreifenden Phantaſie des Zuſchauers beinahe jezt ſchon ein paar flehend ausgeſtreckte Arme und Hände hervorrufen mußte. Doch die Zeichnerin hielt inne, und unter einem Allegro zurücktretend, beobach- tete ſie, während ihr reizender Leib ſich hin und her wiegte, das angefangene Werk noch eine kleine Weile. Mit einer Verbeugung empfing Tillſen die Kreide aus ihrer Hand und ohne viel Umſtände ſtellte dieſer Meiſter mit raſchen Zügen den oberen kraftvollen Körper eines Mannes in drohender Geberde dem Mitleid fordernden Geſichtchen gegenüber. Die Begierde der Geſellſchaft wuchs mit jeder Linie; es ließen ſich ſchon einige Beifall rufende Stimmen vernehmen, es hieß: der junge Prinz Arthur iſt’s, wie er vor ſei- nem Mörder ſteht! Aber der freudigſte Applaus ent- ſtand, als Conſtanze, nachdem Tillſen für Theo- bald den Platz geräumt, vom Eifer ihres Gedankens hingeriſſen, dem Leztern in den Weg ſprang und nun die beiden großen Geſtalten mit trefflich mimiſcher Heftigkeit um das Vorrecht der Kreide rangen, die denn zulezt in zwei geſchickte Theile brach, worauf das Paar bei lebhafter Muſik ein verſchlungenes Duo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/114
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/114>, abgerufen am 29.11.2024.