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Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.

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Sie macht ihm Platz an ihrer Rechten,
Lehrt ihm ein lustig Kränzlein flechten,
Am Bach da hatt's der Blumen viel;
Der Tag war aber gar zu schwül:
Der Knabe nickt, dann schläft er ein,
Schön Rahel sizt für sich allein.
Sie kriegt des Knaben Buch zur Hand,
Davon sie leider nichts verstand,
Sie nimmt das Täflein auf den Schoos,
Da wurden ihr die Thränen los.
Mit Händen deckt sie ihr Gesicht,
Sie bet't im Stillen und weiß es nicht.
Und wie sie wieder aufgeblickt,
Ein frisches Aug ins Blaue schickt, --
Vom Michelsberg was blinkt so hell,
Als wie das Kreuz auf der Kapell?
Streicht es nicht durch die Luft daher?
Kommt es nicht nah und immer mehr?
Ein Vogel, ei! ein Schwälblein hold!
Im Schnabel hat's ein klares Gold.
Der Jungfrau legt's, o Wunder, sieh!
Ein' güldene Feder auf ihr Knie,
Fliegt auf den nächsten Erlenbaum:
Der Jungfrau ist es als ein Traum.
Wie wird es ihr im Geist so licht!
Sie weiß ihr ganzes Traumgesicht!
Ihr klinget, was der Engel sprach,
Hell, wie Gesang, im Herzen nach.
Sie macht ihm Platz an ihrer Rechten,
Lehrt ihm ein luſtig Kraͤnzlein flechten,
Am Bach da hatt's der Blumen viel;
Der Tag war aber gar zu ſchwuͤl:
Der Knabe nickt, dann ſchlaͤft er ein,
Schoͤn Rahel ſizt fuͤr ſich allein.
Sie kriegt des Knaben Buch zur Hand,
Davon ſie leider nichts verſtand,
Sie nimmt das Taͤflein auf den Schoos,
Da wurden ihr die Thraͤnen los.
Mit Haͤnden deckt ſie ihr Geſicht,
Sie bet't im Stillen und weiß es nicht.
Und wie ſie wieder aufgeblickt,
Ein friſches Aug ins Blaue ſchickt, —
Vom Michelsberg was blinkt ſo hell,
Als wie das Kreuz auf der Kapell?
Streicht es nicht durch die Luft daher?
Kommt es nicht nah und immer mehr?
Ein Vogel, ei! ein Schwaͤlblein hold!
Im Schnabel hat's ein klares Gold.
Der Jungfrau legt's, o Wunder, ſieh!
Ein' guͤldene Feder auf ihr Knie,
Fliegt auf den naͤchſten Erlenbaum:
Der Jungfrau iſt es als ein Traum.
Wie wird es ihr im Geiſt ſo licht!
Sie weiß ihr ganzes Traumgeſicht!
Ihr klinget, was der Engel ſprach,
Hell, wie Geſang, im Herzen nach.
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[92/0108] Sie macht ihm Platz an ihrer Rechten, Lehrt ihm ein luſtig Kraͤnzlein flechten, Am Bach da hatt's der Blumen viel; Der Tag war aber gar zu ſchwuͤl: Der Knabe nickt, dann ſchlaͤft er ein, Schoͤn Rahel ſizt fuͤr ſich allein. Sie kriegt des Knaben Buch zur Hand, Davon ſie leider nichts verſtand, Sie nimmt das Taͤflein auf den Schoos, Da wurden ihr die Thraͤnen los. Mit Haͤnden deckt ſie ihr Geſicht, Sie bet't im Stillen und weiß es nicht. Und wie ſie wieder aufgeblickt, Ein friſches Aug ins Blaue ſchickt, — Vom Michelsberg was blinkt ſo hell, Als wie das Kreuz auf der Kapell? Streicht es nicht durch die Luft daher? Kommt es nicht nah und immer mehr? Ein Vogel, ei! ein Schwaͤlblein hold! Im Schnabel hat's ein klares Gold. Der Jungfrau legt's, o Wunder, ſieh! Ein' guͤldene Feder auf ihr Knie, Fliegt auf den naͤchſten Erlenbaum: Der Jungfrau iſt es als ein Traum. Wie wird es ihr im Geiſt ſo licht! Sie weiß ihr ganzes Traumgeſicht! Ihr klinget, was der Engel ſprach, Hell, wie Geſang, im Herzen nach.

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/108>, abgerufen am 06.05.2024.