Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.helm, sagte Philipp! Er hat von der Liebe ganz unendlich viel gelitten. Er ist ganz verändert, und so ungestüm und heftig geworden. Man sieht, daß er doch vieles von seines Vaters Temperament ha- ben muß. Seine Einbildungskraft, die sonst zu schlummern schien, ist schrecklich aufgewacht. Das traurigste ist, daß er alles so tief fühlt, und so fest in seinem Herzen verschliest. Die Liebe hat ihm eine tiefe Wunde geschlagen, und ich fürchte, daß sie eher nicht, als durch den Besitz Theresens geheilt werden wird; aber dieses ist so weitaussehend und unwahrscheinlich, daß er vorher drüber zu Grund gehen kann. -- Ja, und meine Schwester kanns auch, sagte Siegwart. Das arme Mädchen leidet so viel. Alles, was sie schreibt, ist so düster und schwermüthig. Und dann schrieb sie mir auch neu- lich, daß sie kränkle und den Tod hoffe. Jch durf- te das Kronhelm nicht sagen; er würde mit ihr sterben. Ach, die Liebe ist was fürchterliches, sagte Philipp. Sie verzehrt die edelsten und besten See- len. Unter hundert Jünglingen und Mädchen, welche sterben, würde man immer, wenn man ihre Krankengeschichten wüßte, zehen finden, die die Lie- be getödtet, oder doch um etliche Jahre dem Grabe näher gebracht hat. Hüt er sich, mein lieber Xa- helm, ſagte Philipp! Er hat von der Liebe ganz unendlich viel gelitten. Er iſt ganz veraͤndert, und ſo ungeſtuͤm und heftig geworden. Man ſieht, daß er doch vieles von ſeines Vaters Temperament ha- ben muß. Seine Einbildungskraft, die ſonſt zu ſchlummern ſchien, iſt ſchrecklich aufgewacht. Das traurigſte iſt, daß er alles ſo tief fuͤhlt, und ſo feſt in ſeinem Herzen verſchlieſt. Die Liebe hat ihm eine tiefe Wunde geſchlagen, und ich fuͤrchte, daß ſie eher nicht, als durch den Beſitz Thereſens geheilt werden wird; aber dieſes iſt ſo weitausſehend und unwahrſcheinlich, daß er vorher druͤber zu Grund gehen kann. — Ja, und meine Schweſter kanns auch, ſagte Siegwart. Das arme Maͤdchen leidet ſo viel. Alles, was ſie ſchreibt, iſt ſo duͤſter und ſchwermuͤthig. Und dann ſchrieb ſie mir auch neu- lich, daß ſie kraͤnkle und den Tod hoffe. Jch durf- te das Kronhelm nicht ſagen; er wuͤrde mit ihr ſterben. Ach, die Liebe iſt was fuͤrchterliches, ſagte Philipp. Sie verzehrt die edelſten und beſten See- len. Unter hundert Juͤnglingen und Maͤdchen, welche ſterben, wuͤrde man immer, wenn man ihre Krankengeſchichten wuͤßte, zehen finden, die die Lie- be getoͤdtet, oder doch um etliche Jahre dem Grabe naͤher gebracht hat. Huͤt er ſich, mein lieber Xa- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0062" n="482"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> helm, ſagte Philipp! Er hat von der Liebe ganz<lb/> unendlich viel gelitten. Er iſt ganz veraͤndert, und<lb/> ſo ungeſtuͤm und heftig geworden. Man ſieht, daß<lb/> er doch vieles von ſeines Vaters Temperament ha-<lb/> ben muß. Seine Einbildungskraft, die ſonſt zu<lb/> ſchlummern ſchien, iſt ſchrecklich aufgewacht. Das<lb/> traurigſte iſt, daß er alles ſo tief fuͤhlt, und ſo feſt<lb/> in ſeinem Herzen verſchlieſt. Die Liebe hat ihm<lb/> eine tiefe Wunde geſchlagen, und ich fuͤrchte, daß<lb/> ſie eher nicht, als durch den Beſitz Thereſens geheilt<lb/> werden wird; aber dieſes iſt ſo weitausſehend und<lb/> unwahrſcheinlich, daß er vorher druͤber zu Grund<lb/> gehen kann. — Ja, und meine Schweſter kanns<lb/> auch, ſagte Siegwart. Das arme Maͤdchen leidet<lb/> ſo viel. Alles, was ſie ſchreibt, iſt ſo duͤſter und<lb/> ſchwermuͤthig. Und dann ſchrieb ſie mir auch neu-<lb/> lich, daß ſie kraͤnkle und den Tod hoffe. Jch durf-<lb/> te das Kronhelm nicht ſagen; er wuͤrde mit ihr<lb/> ſterben. Ach, die Liebe iſt was fuͤrchterliches, ſagte<lb/> Philipp. Sie verzehrt die edelſten und beſten See-<lb/> len. Unter hundert Juͤnglingen und Maͤdchen,<lb/> welche ſterben, wuͤrde man immer, wenn man ihre<lb/> Krankengeſchichten wuͤßte, zehen finden, die die Lie-<lb/> be getoͤdtet, oder doch um etliche Jahre dem Grabe<lb/> naͤher gebracht hat. Huͤt er ſich, mein lieber <hi rendition="#fr">Xa-<lb/></hi></p> </div> </body> </text> </TEI> [482/0062]
helm, ſagte Philipp! Er hat von der Liebe ganz
unendlich viel gelitten. Er iſt ganz veraͤndert, und
ſo ungeſtuͤm und heftig geworden. Man ſieht, daß
er doch vieles von ſeines Vaters Temperament ha-
ben muß. Seine Einbildungskraft, die ſonſt zu
ſchlummern ſchien, iſt ſchrecklich aufgewacht. Das
traurigſte iſt, daß er alles ſo tief fuͤhlt, und ſo feſt
in ſeinem Herzen verſchlieſt. Die Liebe hat ihm
eine tiefe Wunde geſchlagen, und ich fuͤrchte, daß
ſie eher nicht, als durch den Beſitz Thereſens geheilt
werden wird; aber dieſes iſt ſo weitausſehend und
unwahrſcheinlich, daß er vorher druͤber zu Grund
gehen kann. — Ja, und meine Schweſter kanns
auch, ſagte Siegwart. Das arme Maͤdchen leidet
ſo viel. Alles, was ſie ſchreibt, iſt ſo duͤſter und
ſchwermuͤthig. Und dann ſchrieb ſie mir auch neu-
lich, daß ſie kraͤnkle und den Tod hoffe. Jch durf-
te das Kronhelm nicht ſagen; er wuͤrde mit ihr
ſterben. Ach, die Liebe iſt was fuͤrchterliches, ſagte
Philipp. Sie verzehrt die edelſten und beſten See-
len. Unter hundert Juͤnglingen und Maͤdchen,
welche ſterben, wuͤrde man immer, wenn man ihre
Krankengeſchichten wuͤßte, zehen finden, die die Lie-
be getoͤdtet, oder doch um etliche Jahre dem Grabe
naͤher gebracht hat. Huͤt er ſich, mein lieber Xa-
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