Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



heraus, und pflückte ihm Kirschen von den Bäu-
men ab. Er brachte auch einen Krug mit Wasser,
und setzte sich neben unserm Siegwart hin. Als
sich dieser etwas erfrischt hatte, betrachtete er den Ein-
siedler genauer, und fand, daß er ein Mann nicht
viel über dreysig war, obgleich sein Gesicht von
innerlichem Kummer sehr abgezehrt zu seyn schien.
Jn seinem düstern Auge war ein Ueberrest von un-
terdrücktem Feuer, und aus dem ganzen Gesicht
sprach viel Edles. Ueberhaupt verrieth sein gan-
zes Betragen, und auch seine Sprache einen
Mann von nicht geringem Herkommen. Und wie
kommen Sie in diesen Wald, sagte er, wenn ich
fragen darf? Jch wollte, antwortete Siegwart,
nach, nach -- -- Ja, nun hab ich den Namen
des |Dorfs vergessen, -- und da must ich durch
den Wald gehn, und vertiefte mich in meinen Ge-
danken, und verlohr den Weg, und konnte mich,
trotz alles Suchens doch nicht mehr heraus finden. --
Das glaub ich, versetzte der Einsiedler; der Wald
ist erstaunlich groß, zumal in die Länge. Jetzt
wirklich meine Hütte ist vom nächsten Dorf zwo
Stunden weit entfernt, und ich habe hier seit Jahr
und Tag keinen Menschen gesehen. Sie sahen
mirs auch wol an, wie ich über Jhren Anblick so



heraus, und pfluͤckte ihm Kirſchen von den Baͤu-
men ab. Er brachte auch einen Krug mit Waſſer,
und ſetzte ſich neben unſerm Siegwart hin. Als
ſich dieſer etwas erfriſcht hatte, betrachtete er den Ein-
ſiedler genauer, und fand, daß er ein Mann nicht
viel uͤber dreyſig war, obgleich ſein Geſicht von
innerlichem Kummer ſehr abgezehrt zu ſeyn ſchien.
Jn ſeinem duͤſtern Auge war ein Ueberreſt von un-
terdruͤcktem Feuer, und aus dem ganzen Geſicht
ſprach viel Edles. Ueberhaupt verrieth ſein gan-
zes Betragen, und auch ſeine Sprache einen
Mann von nicht geringem Herkommen. Und wie
kommen Sie in dieſen Wald, ſagte er, wenn ich
fragen darf? Jch wollte, antwortete Siegwart,
nach, nach — — Ja, nun hab ich den Namen
des |Dorfs vergeſſen, — und da muſt ich durch
den Wald gehn, und vertiefte mich in meinen Ge-
danken, und verlohr den Weg, und konnte mich,
trotz alles Suchens doch nicht mehr heraus finden. —
Das glaub ich, verſetzte der Einſiedler; der Wald
iſt erſtaunlich groß, zumal in die Laͤnge. Jetzt
wirklich meine Huͤtte iſt vom naͤchſten Dorf zwo
Stunden weit entfernt, und ich habe hier ſeit Jahr
und Tag keinen Menſchen geſehen. Sie ſahen
mirs auch wol an, wie ich uͤber Jhren Anblick ſo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0523" n="943"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
heraus, und pflu&#x0364;ckte ihm Kir&#x017F;chen von den Ba&#x0364;u-<lb/>
men ab. Er brachte auch einen Krug mit Wa&#x017F;&#x017F;er,<lb/>
und &#x017F;etzte &#x017F;ich neben un&#x017F;erm Siegwart hin. Als<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;er etwas erfri&#x017F;cht hatte, betrachtete er den Ein-<lb/>
&#x017F;iedler genauer, und fand, daß er ein Mann nicht<lb/>
viel u&#x0364;ber drey&#x017F;ig war, obgleich &#x017F;ein Ge&#x017F;icht von<lb/>
innerlichem Kummer &#x017F;ehr abgezehrt zu &#x017F;eyn &#x017F;chien.<lb/>
Jn &#x017F;einem du&#x0364;&#x017F;tern Auge war ein Ueberre&#x017F;t von un-<lb/>
terdru&#x0364;cktem Feuer, und aus dem ganzen Ge&#x017F;icht<lb/>
&#x017F;prach viel Edles. Ueberhaupt verrieth &#x017F;ein gan-<lb/>
zes Betragen, und auch &#x017F;eine Sprache einen<lb/>
Mann von nicht geringem Herkommen. Und wie<lb/>
kommen Sie in die&#x017F;en Wald, &#x017F;agte er, wenn ich<lb/>
fragen darf? Jch wollte, antwortete Siegwart,<lb/>
nach, nach &#x2014; &#x2014; Ja, nun hab ich den Namen<lb/>
des |Dorfs verge&#x017F;&#x017F;en, &#x2014; und da mu&#x017F;t ich durch<lb/>
den Wald gehn, und vertiefte mich in meinen Ge-<lb/>
danken, und verlohr den Weg, und konnte mich,<lb/>
trotz alles Suchens doch nicht mehr heraus finden. &#x2014;<lb/>
Das glaub ich, ver&#x017F;etzte der Ein&#x017F;iedler; der Wald<lb/>
i&#x017F;t er&#x017F;taunlich groß, zumal in die La&#x0364;nge. Jetzt<lb/>
wirklich meine Hu&#x0364;tte i&#x017F;t vom na&#x0364;ch&#x017F;ten Dorf zwo<lb/>
Stunden weit entfernt, und ich habe hier &#x017F;eit Jahr<lb/>
und Tag keinen Men&#x017F;chen ge&#x017F;ehen. Sie &#x017F;ahen<lb/>
mirs auch wol an, wie ich u&#x0364;ber Jhren Anblick &#x017F;o<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[943/0523] heraus, und pfluͤckte ihm Kirſchen von den Baͤu- men ab. Er brachte auch einen Krug mit Waſſer, und ſetzte ſich neben unſerm Siegwart hin. Als ſich dieſer etwas erfriſcht hatte, betrachtete er den Ein- ſiedler genauer, und fand, daß er ein Mann nicht viel uͤber dreyſig war, obgleich ſein Geſicht von innerlichem Kummer ſehr abgezehrt zu ſeyn ſchien. Jn ſeinem duͤſtern Auge war ein Ueberreſt von un- terdruͤcktem Feuer, und aus dem ganzen Geſicht ſprach viel Edles. Ueberhaupt verrieth ſein gan- zes Betragen, und auch ſeine Sprache einen Mann von nicht geringem Herkommen. Und wie kommen Sie in dieſen Wald, ſagte er, wenn ich fragen darf? Jch wollte, antwortete Siegwart, nach, nach — — Ja, nun hab ich den Namen des |Dorfs vergeſſen, — und da muſt ich durch den Wald gehn, und vertiefte mich in meinen Ge- danken, und verlohr den Weg, und konnte mich, trotz alles Suchens doch nicht mehr heraus finden. — Das glaub ich, verſetzte der Einſiedler; der Wald iſt erſtaunlich groß, zumal in die Laͤnge. Jetzt wirklich meine Huͤtte iſt vom naͤchſten Dorf zwo Stunden weit entfernt, und ich habe hier ſeit Jahr und Tag keinen Menſchen geſehen. Sie ſahen mirs auch wol an, wie ich uͤber Jhren Anblick ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/523
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 943. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/523>, abgerufen am 22.11.2024.