bare Gewalt als gegen List und Kunstgriffe; und mehr, wenn die Gefahr schon da war, als wenn sie erst noch von ferne drohte.
Den Tag darauf wartete er mit der grösten Sehnsucht auf einen Brief von seinem Vater. Der Briesträger kam endlich. Mit klopfendem Herzen sprang er ihm die Treppe hinab entgegen; nahm den Brief an, ohne die Ueberschrift zu le- sen, und brach ihn auf. Wie erschrack er, als er statt der Handschrift seines Vaters, des jungen Grünbachs seine sah, der ihm berichtete: Er wer- de nun gewiß an Michaelis nach Jngolstadt kom- men, da er an Ostern daran verhindert worden sey. Siegwart warf den Brief weg, eh er ihn ausgelesen hatte, und machte sich tausend schreckli- che Vorstellungen, warum wol sein Vater nicht geschrieben haben möge, da doch schon vor vier Posttagen ein Brief hätte ankommen können. Mit alle seinem Nachsinnen bracht er doch nichts heraus, als tausenderley Muthmassungen, deren immer ei- ne die andre wieder aufhob.
Voll verdrüßlicher Grillen und übler Laune gieng er aufs Landguth hinaus. Mariane sahs ihm bald an, daß ihm etwas fehlte. Anfangs vermuthete sie, er habe einen verdrüßlichen Brief bekommen;
bare Gewalt als gegen Liſt und Kunſtgriffe; und mehr, wenn die Gefahr ſchon da war, als wenn ſie erſt noch von ferne drohte.
Den Tag darauf wartete er mit der groͤſten Sehnſucht auf einen Brief von ſeinem Vater. Der Brieſtraͤger kam endlich. Mit klopfendem Herzen ſprang er ihm die Treppe hinab entgegen; nahm den Brief an, ohne die Ueberſchrift zu le- ſen, und brach ihn auf. Wie erſchrack er, als er ſtatt der Handſchrift ſeines Vaters, des jungen Gruͤnbachs ſeine ſah, der ihm berichtete: Er wer- de nun gewiß an Michaelis nach Jngolſtadt kom- men, da er an Oſtern daran verhindert worden ſey. Siegwart warf den Brief weg, eh er ihn ausgeleſen hatte, und machte ſich tauſend ſchreckli- che Vorſtellungen, warum wol ſein Vater nicht geſchrieben haben moͤge, da doch ſchon vor vier Poſttagen ein Brief haͤtte ankommen koͤnnen. Mit alle ſeinem Nachſinnen bracht er doch nichts heraus, als tauſenderley Muthmaſſungen, deren immer ei- ne die andre wieder aufhob.
Voll verdruͤßlicher Grillen und uͤbler Laune gieng er aufs Landguth hinaus. Mariane ſahs ihm bald an, daß ihm etwas fehlte. Anfangs vermuthete ſie, er habe einen verdruͤßlichen Brief bekommen;
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0446"n="866"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
bare Gewalt als gegen Liſt und Kunſtgriffe; und<lb/>
mehr, wenn die Gefahr ſchon da war, als wenn<lb/>ſie erſt noch von ferne drohte.</p><lb/><p>Den Tag darauf wartete er mit der groͤſten<lb/>
Sehnſucht auf einen Brief von ſeinem Vater.<lb/>
Der Brieſtraͤger kam endlich. Mit klopfendem<lb/>
Herzen ſprang er ihm die Treppe hinab entgegen;<lb/>
nahm den Brief an, ohne die Ueberſchrift zu le-<lb/>ſen, und brach ihn auf. Wie erſchrack er, als er<lb/>ſtatt der Handſchrift ſeines Vaters, des jungen<lb/>
Gruͤnbachs ſeine ſah, der ihm berichtete: Er wer-<lb/>
de nun gewiß an Michaelis nach Jngolſtadt kom-<lb/>
men, da er an Oſtern daran verhindert worden<lb/>ſey. Siegwart warf den Brief weg, eh er ihn<lb/>
ausgeleſen hatte, und machte ſich tauſend ſchreckli-<lb/>
che Vorſtellungen, warum wol ſein Vater nicht<lb/>
geſchrieben haben moͤge, da doch ſchon vor vier<lb/>
Poſttagen ein Brief haͤtte ankommen koͤnnen. Mit<lb/>
alle ſeinem Nachſinnen bracht er doch nichts heraus,<lb/>
als tauſenderley Muthmaſſungen, deren immer ei-<lb/>
ne die andre wieder aufhob.</p><lb/><p>Voll verdruͤßlicher Grillen und uͤbler Laune gieng<lb/>
er aufs Landguth hinaus. Mariane ſahs ihm bald<lb/>
an, daß ihm etwas fehlte. Anfangs vermuthete<lb/>ſie, er habe einen verdruͤßlichen Brief bekommen;<lb/></p></div></body></text></TEI>
[866/0446]
bare Gewalt als gegen Liſt und Kunſtgriffe; und
mehr, wenn die Gefahr ſchon da war, als wenn
ſie erſt noch von ferne drohte.
Den Tag darauf wartete er mit der groͤſten
Sehnſucht auf einen Brief von ſeinem Vater.
Der Brieſtraͤger kam endlich. Mit klopfendem
Herzen ſprang er ihm die Treppe hinab entgegen;
nahm den Brief an, ohne die Ueberſchrift zu le-
ſen, und brach ihn auf. Wie erſchrack er, als er
ſtatt der Handſchrift ſeines Vaters, des jungen
Gruͤnbachs ſeine ſah, der ihm berichtete: Er wer-
de nun gewiß an Michaelis nach Jngolſtadt kom-
men, da er an Oſtern daran verhindert worden
ſey. Siegwart warf den Brief weg, eh er ihn
ausgeleſen hatte, und machte ſich tauſend ſchreckli-
che Vorſtellungen, warum wol ſein Vater nicht
geſchrieben haben moͤge, da doch ſchon vor vier
Poſttagen ein Brief haͤtte ankommen koͤnnen. Mit
alle ſeinem Nachſinnen bracht er doch nichts heraus,
als tauſenderley Muthmaſſungen, deren immer ei-
ne die andre wieder aufhob.
Voll verdruͤßlicher Grillen und uͤbler Laune gieng
er aufs Landguth hinaus. Mariane ſahs ihm bald
an, daß ihm etwas fehlte. Anfangs vermuthete
ſie, er habe einen verdruͤßlichen Brief bekommen;
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 866. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/446>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.